„Hier wohnst du also?", sage ich leise und starre auf das Gefährt vor mir.
Es sieht so aus, als würde es jeden Moment einstürzen und ich erwische mich dabei, dass ich mich zurück zu den abgewrackten Häusern von vorhin sehne.
„Was ist das?", frage ich dann mit angehaltenem Atem.
„Das", stellt er trocken grinsend vor, „ist mein Wohnwagen."
„Wohnwagen", wiederhole ich das Wort, koste es aus und frage mich, was es wohl zu bedeuten hat.
„Genau", bestätigt er. „Die Regierung hat fast alle von ihnen vernichtet, aber das alte Schätzchen hier konnte ich noch retten."
„Und ...", ich stocke kurz, „was macht man damit?"
„Darin wohnen", erklärt er mir und ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen.
Von etwas Derartigem habe ich noch nie gehört.
„Okay?", murmele ich verlegen.
„Ich sagte dir ja, es ist nichts Besonderes", meint er schulterzuckend und geht an mir vorbei zu der Tür, um diese mit einem Schlüssel aus seiner Hosentasche aufzuschließen.
Sie klemmt ein wenig und er muss sich mit seinem vollen Gewicht dagegen lehnen, damit sie letztendlich nachgibt und mit einem lauten Quietschen aufgeht.
„Du kannst noch immer gehen, wenn du willst ...", murmelt er verlegen und seine Wangen verfärben sich zu diesem einen bestimmten Ton, der mir so gut gefällt.
„Nein", erkläre ich ihm bestimmt. „Ich will die ganze Wahrheit kennen, nicht nur einen Teil davon."
Seufzend macht er mir Platz, sodass ich eintreten kann.
„Herein in die gute Stube", sagt er ironisch, schließt die Tür hinter uns mit einem festen Ruck, sodass sie laut ins Schloss knallt, und schiebt sich an mir vorbei in den winzigen Raum.
Es gibt einen ausklappbaren Tisch mit einem einzigen Stuhl, der gleichzeitig auch als Sitz für den quadratischen Fernseher dient, der in einer Ecke auf einem kleinen, hölzernen Schrank steht. Auf seinem Bildschirm kann ich flackernd die Nachrichten sehen – wahrscheinlich hat er beim Hinausgehen vergessen, ihn auszustellen. Einen Ton höre ich jedoch nicht.
„Der Empfang ist schlecht", entschuldigt Louis sich und schlägt einige Male leicht gegen die Seite des Fernsehers, woraufhin ein unangenehmes Rauschen entsteht, was mich viel mehr als die Stille zuvor stört.
Seufzend fährt er sich durch die Haare und schaltet das alte Ding mit einem leisen Fluchen ab. Generell flucht man hier häufiger. Nähme ich eines der Wörter in den Mund, die hier täglich gebraucht werden, würden meine Eltern vermutlich ausrasten. Schließlich verstößt es gegen die Gesellschaftsregeln, so unhöflich zu sein, doch diese Gesetze habe ich schon ab dem Zeitpunkt gebrochen, ab dem ich wusste, dass Louis ein Rebell ist und dennoch nichts unternommen habe.
Der Dunkelhaarige ist zwischenzeitlich durch einen Türrahmen, in dem die Tür jedoch fehlt, in die winzige Küche gegangen. Ich höre das Brodeln eines Teekochers und das Klappern von Tassen.
„Magst du Milch in den Tee?", fragt er mich über den Lärm des kochenden Wassers hinweg und ich ziehe den Mund zu einem Lächeln empor.
„Gerne."
„Zucker?", erkundigt er sich weiter, doch ich schüttele den Kopf.
„Nein, danke."
Während er in der Küche beschäftigt ist, nutze ich die Zeit, um mich weiter umzusehen.
Der Bereich, in dem ich mich befinde, ist scheinbar das Wohn- und Esszimmer. Zu meiner Rechten entdecke ich eine weitere Tür. An der geblümten Wand hängt ein Foto in einem Bilderrahmen. Das Glas hat einen Sprung und auch das Foto darin scheint älter zu sein. Es zeigt zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die sich umarmen und lächelnd in die Kamera schauen. Das Mädchen trägt ein Haarband auf dem Kopf, während die zwei beinahe das ganze Bild mit ihren Köpfen bedecken.
Interessiert trete ich näher.
Das Licht von zwei winzigen Fenstern erhellt den Raum und während ich das erste Bild begutachte, entdecke ich ein weiteres. Man sieht Louis, der eine junge Frau umarmt.
In diesem Moment tritt er aus der Küche. In seinen Händen sind zwei Tassen mit Tee. Die Unterteller passen nicht zu den Tassen und eine von ihnen hat einen Sprung an der Seite.
Verlegen behält er diese, während er mir die andere, noch ganze, gibt.
Meine Untertasse ist mit Rosen verziert, während meine Tasse gepunktet ist, doch das macht mir nichts aus.
Der Tee darin ist warm und dampfend, er hat eine perfekte Färbung, so, wie ich ihn am liebsten mag. Das ist es, was zählt, nicht, ob das Teeservice zusammenpasst.
Er wirft mir einen kurzen Blick zu und erfasst sofort, dass ich kurz zuvor die Bilder betrachtet habe.
Langsam wandern seine Augen zu den Fotos weiter und seine Miene verkrampft sich.
„Deine ... Schwester?", vermute ich und deute mit dem Zeigefinger auf das Mädchen im Bild.
Er nickt.
„Ja, Georgia", meint er mit heiserer Stimme und räuspert sich.
„Sie sieht nett aus", sage ich lächelnd und nippe an meinem Tee, wovon ich mir fast die Zunge verbrenne.
„Okay so?", fragt er unsicher und schielt zu der Tasse in meinen Händen.
„Perfekt", erwidere ich und trinke noch einen Schluck, obwohl sich meine Zunge bereits wund und taub anfühlt, nur um ihm zu beweisen, dass es mir wirklich schmeckt.
„Hast du noch Kontakt zu deiner Schwester?", will ich dann interessiert wissen und sehe erneut auf das schwarzweiße Foto.
Dort sehe ich Louis nicht bunt. Scheinbar funktioniert dieser Zauber nur bei einer realen Person.
„Ich meine", füge ich an, „vielleicht könnte ich sie ja kennenlernen. Arbeitet sie in der Stadt oder ist sie auch -"
„Nein, ich habe keinen Kontakt mehr", unterbricht er mich. „Nicht, seit ..."
Nun bricht er selbst ab, presst die Lippen aufeinander und sieht weg. „Sie wohnt in der Stadt, bei meinen Eltern, denke ich."
„Oh", mache ich betroffen und trinke noch mehr Tee, um meine Verlegenheit zu überspielen.
Die Tasse ist nun fast leer.
„Das tut mir leid", murmele ich leise und beiße mir auf die Innenseite meiner Wange.
„Vielleicht", kommt mir da eine Idee und meine Miene erhellt sich, „kann ich ja nach ihr suchen! Ich meine, du hast ein Foto und du kannst mir die Adresse deiner Eltern geben, sodass ich euch beide möglicherweise wieder in Kontakt bring-"
„Wir haben keinen Kontakt mehr", wiederholt er bestimmt, „und das ist auch besser so."
Und damit ist unser Gespräch fürs Erste beendet.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...