Zusammen mit Louis sprinte ich die grauen Straßen entlang. Ich keuche schon und ein schmerzhaftes Stechen hat sich seit gut hundert Metern in meiner Seite breitgemacht, doch das kümmert mich nicht weiter, weil wir so schnell wie möglich zu den anderen kommen müssen. Wenn wir uns nicht beeilen, sieht es schlecht für uns alle aus.
In Louis' Blick erkenne ich schon wieder diese Entschlossenheit, die ihn immer packt, wenn es um die Rebellen und den bevorstehenden Aufstand geht. Er ist nun wieder durch und durch der Anführer einer Revolution, und, obwohl es nun der wohl unpassendste Moment ist, der nur möglich ist, schießt mir durch den Kopf, dass er damit ziemlich attraktiv aussieht.
Gleich darauf werde ich wieder traurig, denn ich muss daran denken, dass ich ihn schon bald nicht mehr so sehen werde. In naher Zukunft wird sich Louis für mich nicht mehr von allen anderen unterscheiden können – jedenfalls äußerlich nicht, sein Charakter wird für immer einzigartig sein –, aber das macht mein Opfer für mich nur noch wertvoller.
Endlich bin ich einmal zu etwas wirklich Wichtigem nützlich!
Meine Lunge droht zu zerbersten, mir wird schwindelig, da wir schon seit mehreren Minuten rennen und ich es nicht gewohnt bin, so lange Strecken zu sprinten, doch ich hole meine letzten Kräfte aus mir heraus und halte mit Louis schritt. Mein Kopf senkt sich vor Anstrengung, mein ganzer Körper schreit nach Luft, aber ich gebe nicht auf.
Ironischerweise muss ich daran denken, was mir mein Vater früher immer gesagt hat: „Zu kämpfen heißt, weiterzumachen, auch wenn der ganze Körper schon lange aufgegeben hat."
Auch, wenn er es damals im Bezug auf die Regierung gemeint hat, sehe ich Wahrheit in seinen Worten. Mein ganzer Körper fleht mich in diesem Moment um Gnade an und es kostet mich meine letzte Überwindungskraft, trotzdem weiterzurennen, aber ich tue es dennoch.
Und das ist erst der Anfang von all dem, was heute noch auf mich zukommen wird.
Ich habe nicht auf den Weg geachtet, doch nun spüre ich, wie ich zur Seite gerissen werde und schreie erschrocken auf. Meine Füße verlieren den Halt am Boden, sie straucheln und ich wäre wohl hingefallen, hätte Louis mich nicht in der Zeit schon weitergeschleift, bis zu einem winzigen Spalt zwischen zwei Häusern, den man nicht einmal als Gasse bezeichen kann.
„Shhh!", macht er gleichzeitig, schiebt mich hinein und quetscht sich neben mich, sodass er noch auf die Straße blicken kann, ich jedoch kaum etwas sehe.
Nur seine Anwesenheit hält mich davon ab, in Panik auszubrechen.
„Was ist los?", wispere ich und widersetze mich damit seiner Anweisung, still zu sein.
Statt einer Antwort legt er nur einen Finger auf die Lippen, wie ich schemenhaft erkennen kann und ich gebe mich damit zufrieden, ruhig zu sein. Ich muss ihm wohl vertrauen.
Erst einmal passiert gar nichts. Das Einzige, was ich höre, ist unser Schnaufen und Keuchen, während wir versuchen, wieder zu Atem zu kommen. Nach dem langen Rennen fühle ich mich nun ausgelaugt und müde.
Am liebsten würde ich mich an ihn lehnen und einfach nur seine Nähe genießen, doch dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wir befinden uns mitten in einem Kampf um die Freiheit, unsere Gefühle müssen wir dabei nach hinten stellen.
Als ich schon fast glaube, er hätte sich getäuscht und ihn erneut fragen will, wieso wir hier in diesem Spalt stehen, während alle anderen auf die Hilfe ihres Anführers angewiesen sind, höre ich sie. Ein Auto fährt durch die schlecht geteerten Straßen. Stimmen kommen auf, raue Männerstimmen, die kurz angebundene Befehle erteilen.
„Stopp!", schreit einer, sein Ton ist der typisch aggressive, welchen ich nur von den wenigen Militär Offizieren kenne, die mein Vater von Zeit zu Zeit eingeladen hat.
Es ist die Regierung, die nach mir sucht.
„Verteilen!", kommt das nächste Kommando, „Einheit A nach links, Einheit B bleibt bei mir. Harper, Jackdaw und Mason, Sie bleiben im Wagen."
Ich kann Schritte auf dem rissigen Asphalt der Straße hören. Sie sind schwer und klingen, als wären die Soldaten, zu denen sie gehören, ziemlich gut ausgerüstet. Schon jetzt ist mir klar, dass wir keine Chance gegen sie haben werden, wenn es zur direkten Konfrontation kommt. Sie haben Schusswaffen bei sich und könnten mit einigen gezielten Treffern, welche auf die richtigen Leute abgefeuert werden, die ganze Rebellentruppe lahmlegen, während die meisten von uns nicht einmal ein Messer haben. Es ist ein unfairer und nahezu unmöglich zu gewinnender Kampf, den wir hier ausfechten wollen.
Allerdings haben wir keine andere Wahl und meine letzte Hoffnung ist es, dass wir die Leute wenigstens auf uns aufmerksam machen werden, falls wir heute alle sterben sollten.
Der Regierung wäre jedoch auch zuzutrauen, dass sie alles ganz einfach vertuschen oder anders darstellen würde, und das würde die Bevölkerung ihr sogar noch glauben! Ich hätte es ja selbst geglaubt, wäre ich nicht mitten in das Schlamassel hineingeraten.
Die Ungerechtigkeit der Situation macht mich wütend und zusammen mit der Erschöpfung und der Angst, die ich empfinde, treibt sie mir Tränen in die Augen.
Ich kann nicht anders, als meinen Kopf in Louis' Schulter zu vergraben, mich an seinem Arm festzuklammern und zu hoffen, dass sich irgendwie alles zum Guten wenden wird.
Tröstend streicht er mir über die Haare, sein Blick bleibt dabei aber auf der Straße.
„Alles Durchsuchen!", befiehlt der Kommandant nun.
Sie fangen damit an, die Häuser systematisch zu durchkämmen und mir wird bewusst, wie recht Louis damit hatte, dass ich mich nirgends verstecken kann. Ich muss zum Rebellen werden, sonst wird mich die Regierung nie in Ruhe lassen.
Die Schritte kommen näher, ganz in unserer Nähe wird eine Tür eingetreten. Trampelnd betreten die Soldaten das Haus.
Ängstlich klammere ich mich noch mehr an Louis fest, welcher mich dicht an sich zieht.
Wir sitzen hier wie zwei Mäuse in der Falle und können nur hoffen, dass uns niemand entdeckt.
„Da drüben ist eine Gasse zwischen den Häusern", höre ich jemanden sagen und mir gefriert das Blut in den Adern, „sehen Sie da mal nach!"
Jetzt ist es aus mit uns.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...