Erschrocken reiße ich die Augen auf und hoffe, dass ein Wunder geschieht. Irgendetwas, was uns davon abhält, in wenigen Sekunden von diesen Menschen gefasst zu werden, die uns nur Schlechtes wollen.
Vermutlich würden sie Louis sogar töten – obwohl das unsere Gesetze eigentlich verbieten –, denn schließlich ist er ein rebellierender Rebell – und auch, wenn der Name schon aussagen sollte, dass es zu so etwas kommen könnte, ist es wohl das Schlimmste, was einem Rebellen einfallen könnte, zu tun.
Louis flucht leise vor sich hin, wie er es so oft tut, wenn etwas nicht so läuft, wie er es geplant hat.
Die Schritte nähern sich, während ich erstarre und Louis' Arm mittlerweile so sehr an mich presse, dass ich ihm das Blut abschnüren muss.
Doch mein Seelenverwandter bleibt ruhiger als ich. Statt in eine Art Schockstarre zu verfallen, schubst er mich immer weiter nach hinten, immer tiefer in den Spalt hinein.
Die Dunkelheit umhüllt mich vollends, ich schnappe panisch nach Luft und reiße meine Augen noch weiter auf. Angst macht sich eiskalt in mir breit, ich beginne, unkontrolliert zu zittern. Vor Panik kann ich kaum mehr etwas sehen und blind lasse ich mich von Louis führen.
Er spürt meine Unruhe, doch er kann nichts weiter tun, als meine Hand fest zu drücken und mir damit alle Zuversicht zu schenken, die er in dieser Situation eben hat.
„Beruhige dich, Mira", wispert er mir zu. „Sie werden dich nicht kriegen, das verspreche ich dir."
Noch vor nicht allzu langer Zeit hat er selbst gesagt, dass die Spritze die einzige Möglichkeit ist, bei ihm zu bleiben, aber nun, wo ich kurz davor stehe, scheint er seine Meinung geändert zu haben und will mich mit aller Macht vor diesem Schicksal bewahren.
Doch wie soll ich ihm nur sagen, dass es nicht meine Zukunft ist, vor der ich solche Angst habe, sondern seine? Wie soll ich ihm sagen, dass er sterben wird, wenn sie ihn bekommen und, dass ich ohne ihn nicht mehr weiterleben möchte, auch wenn ich ihn erst so kurz kenne?
Meine Gedanken werden unterbrochen, als die Schritte stoppen und ich den Umriss eines Mannes am Eingang des Spaltes sehen kann.
Mein Herz bleibt stehen, ich befürchte, gleich vor Panik in Ohnmacht zu fallen.
„Rechts!", zischt mir Louis in diesem Moment zu und drückt mich gleichzeitig in die eben genannte Richtung.
Mit zittrigen Händen taste ich mich voran und spüre plötzlich, dass die Wand aufhört. Eine Nische!
In dem Augenblick, in dem ich es begreife, zwänge ich mich schon hinein und rücke so weit wie möglich nach hinten, damit er auch noch Platz hat.
Hier drinnen ist es sogar noch enger als in dem Spalt und weit zurückweichen kann ich nicht, denn meine Seite schmiegt sich schon nach kurzer Zeit an eine weitere Wand.
Hilflos strecke ich meine Hand aus, um ihn zu mir zu ziehen, doch gleichzeitig weiß ich, dass es nicht funktionieren wird. Dafür ist hier zu wenig Platz und obwohl er relativ dünn ist, bin ich noch ein ganzes Stück schmaler. Und selbst ich passe nur knapp in die Nische hinein.
„Komm zum Treffpunkt", sagt er eindringlich zu mir, neigt seinen Kopf zu mir und haucht mir einen sanften Kuss auf die Lippen.
Dann sucht er mit einem Fuß Halt an der Wand, stemmt sich hoch und beginnt nun damit, sich langsam die Wand empor zu stemmen.
„Nein, Louis!", flehe ich, doch er ignoriert mich und ich kann nichts anderes machen, als ihm unglücklich hinterherzusehen.
Im selben Moment durchflutet das Licht der Taschenlampe unser Versteck und ich ziehe den Kopf zurück, um in meiner Nische unentdeckt zu bleiben.
„Hier ist jemand!", ruft der Soldat gleichzeitig und ich zucke zusammen.
Sie haben Louis entdeckt.
Dieser klettert ungerührt weiter. Mittlerweile ist er schon einige Meter über dem Boden und als ich wieder nach oben blicke, zieht er sich gerade durch ein Loch, das durch eine zerfallene Wand entstanden ist, und ist sogar mutig genug, sich noch einmal zu mir umzudrehen und mir ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, obwohl er, angesichts der Bedrohung, die er auf den Fersen hat, eigentlich keinen Grund zum Lachen hat.
Trotzdem wird mir bei seinem Blick warm ums Herz und für eine winzige Sekunde vergesse ich alles um mich herum. Ich vergesse, dass ich mich in einer dunklen Nische befinde und vor der Regierung verstecke. Ich vergesse auch, dass ich schon bald nicht mehr dazu in der Lage sein werde, Farben zu sehen.
„Lauf, Louis", flüstere ich dann, obwohl er mich schon lange nicht mehr hören kann.
Ich sage es wohl eher, um mir selbst Mut zuzureden.
Als ich zum Eingang des Spaltes linse, erkenne ich den Soldaten, der sich nun damit abmüht, sich ebenfalls hineinzuzwängen. Seine Ausrüstung ist allerdings zu breit – ich bin mir sicher, dass er eine kugelsichere Weste trägt und noch dazu hat er eine muskulöse Statur, was es für ihn unmöglich macht, Louis auf direktem Wege zu folgen.
Mein Seelenpartner hat mitgedacht.
Da die Soldaten ihre Ausrüstung bestimmt nicht ablegen werden, werden sie auf eine andere Art versuchen, Louis zu verfolgen, und den Spalt in Ruhe lassen. Niemandem wird auffallen, dass eine weitere Person sich dort versteckt hält, denn der Spalt scheint leer zu sein. Meine Nische kann man von dem Blickwinkel der Soldaten nicht sehen und wenn man nicht von ihr weiß, ist es schwer, sie zu entdecken.
Also werden sie abziehen und mir damit eine Möglichkeit geben, unbemerkt zu fliehen.
Ich kann über den genialen Plan jedoch nicht so glücklich sein, wie ich gerne wollen würde, denn er hat einen Schwachpunkt: Louis muss den Soldaten entkommen.
Sicher, er ist schnell, geschickt, intelligent und kennt sich noch dazu in der Gegend aus, aber die Regierung hat die bessere Ausrüstung.
Kann er ihnen ohne jegliche Waffen entkommen?
Und während ich da in der Nische stehe und darauf warte, endlich weglaufen zu können, macht sich eine riesige Angst um Louis in mir breit.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...