Ich spüre, wie jemand nach meiner Hand greift und sie zwischen zwei Größeren verschwinden lässt. Diese Berührung lässt mich wieder zu mir kommen und ich versuche, die Augen zu öffnen. Doch es fällt mir nicht leicht, sie fühlen sich so unheimlich schwer an, deshalb lenke ich meine Kraft in meine Hand und streiche mit meinen Fingern zaghaft über die Haut der anderen Person.
Ich höre jemanden aufatmen und strenge mich noch einmal an, meine Lider zu bewegen und diesmal klappt es. Die grellen Grautöne blenden mich zuerst und ich sehe einen Mann, der neben meinem Bett sitzt. Sofort presse ich die Augen wieder zusammen und frage mich im selben Moment, wer da meine Hand hält.
Dann wird es mir mit einem Schlag bewusst. Ich reiße meine Augenlider wieder auseinander und bin für ein paar Sekunden unfähig, irgendetwas zu tun, als Louis anzustarren. Seine dunkelgrauen Haare, die graue Kleidung, seine sehr, sehr hellen Augen.
Ich schlucke kräftig, dann entziehe ich ihm meine Hand, um mich aufsetzen zu können. Als ich mich umsehe, bemerke ich, dass ich gar nicht - wie ich es vorher angenommen habe - auf einem Bett liege, sondern auf einer bloßen Matratze, die an eine Wand geschoben wurde und der gegenüber sich ein Fensterrahmen befindet, durch den die einzelnen Sonnenstrahlen in das kleine Zimmer hereintreffen. Das Fenster des Rahmens fehlt.
„Wie geht es dir?", ertönt Louis' Stimme neben mir und ich brauche ein paar Sekunden, um seine neue Erscheinung mit seiner mir nur allzu bekannten Stimme zu verbinden.
„Gut", antworte ich ihm dann und erschrecke im selben Moment über meine krächzenden Laute. Sie müssen meine Antwort sehr ungläubig erscheinen lassen.
„Mir tut nichts weh, ich fühle mich nur noch ein bisschen schwach", ergänze ich deshalb und der Helläugige neben mir nickt.
Er steht auf, wendet mir den Rücken zu und lehnt sich zu dem fensterlosen Rahmen heraus. Ich frage mich, was er da draußen sieht.
„Das ist gut, denn viel Zeit zum Erholen wirst du nicht haben."
Seine lieblose Stimme schneidet mein Trommelfell wie ein Messer. Doch bevor ich ihn darauf ansprechen kann, höre ich ihn schon pfeifen und jemanden zu sich winken. Kurz darauf öffnet sich die alte Tür des Raumes knackend.
Der Mann, wegen dem wir den ganzen Aufstand veranstaltet haben tritt vor mich und setzt sich dann auf den Stuhl neben meiner Matratze, auf dem zuvor noch Louis saß. Jener lehnt mit verschränkten Armen an der Wand und hat seine Augen forschend auf uns gerichtet.
„Hey, Mira", spricht Dave leise und ich lächle ihn an. Wir haben es geschafft.
„Ich möchte mich bei dir bedanken, Mira. Von Herzen. Wirklich, ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Ich weiß, wie viel du nur für meine Befreiung opfern musstest."
Ich sah ihm in die Augen und legte meine Hand auf seine. „Ich würde es immer wieder tun, Dave. Schön, dass du wieder bei uns bist."
Glücklich stelle ich fest, wie sich meine Stimme schon wieder normalisiert hat.
Mein Gegenüber lächelt mich ehrlich an und steht auf, nachdem mein Seelenverwandter sich von der Wand abgestoßen hat und nun die offene Tür in der Hand hält. Aufrichtig nickt er mir noch einmal zu, dann wendet er sich um und schreitet zu seinem Anführer.
„Sorg dafür, dass wir es nicht noch mal tun müssen, Dave. Keine Alleingänge mehr", merkt dieser bestimmt an, worauf der Ältere bloß stumm zustimmt. Dann fällt die Tür wieder laut in ihr Schloss.
Als er sich wieder auf den Stuhl fallen lässt, würdigt er mir keinen Blick.
„Was ist los?", frage ich ihn deshalb, doch ich bekomme keine Antwort.
„Es tut mir leid, Louis", wispere ich nun und die Augen des Angesprochenen bohren sich in meine. „Ich hab' dich angelogen. Mir war bewusst, dass es so enden würde-hätte ich es nicht getan, hättet ihr nie im Leben genug Zeit gehabt."
Ich muss mich bemühen, um nicht schon wieder mit Weinen anzufangen. Sein Schweigen erleichtert mir mein Vorhaben nicht gerade und ich wende meine Augen ab. Ich musste es tun, warum sieht er das denn nicht ein?
Doch ein leises Schluchzen lässt mich augenblicklich wieder herumfahren. Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen und nur anhand des stetigen Bebens seiner Schultern, erkenne ich, dass das Geräusch von ihm kommt. Louis weint.
Ich greife nach seinem Arm, doch er schüttelt meine Hand sofort ab. Dann treffen seine fleckigen Augen auf meine und er sieht mich zum ersten Mal, seitdem ich aufgewacht bin, länger als nur für einen Moment an.
„Ich habe dir alles genommen, Mira! Alles! Deine Eltern, deine Freunde, deinen Beruf, deine Zukunft, ja, sogar diese verdammten Farben!" Er wimmert diese Worte nur so heraus und als ich für den Bruchteil einer Sekunde nichts erwidere, senkt er den Blick und es sprudelt weiter aus ihm heraus: „Ich bin nichts Besonderes mehr für dich. Sieh mich doch an."
Unmerklich schüttele ich den Kopf. „Das tue ich."
Er hebt den Kopf.
„Ich liebe dich, Louis. Bedingungslos. Denkst du wirklich, ein paar Farben würden irgendetwas daran ändern?"
Ich muss mich bemühen, um diese Worte so gleichgültig auszusprechen. Ein paar Farben. Ein paar Farben, wundervolle Farben, die ich nie wiedersehen werde. Doch das spielt keine Rolle.
„Es geht nicht nur um die Farben. Ich habe dir alles genommen, dir dein Leben gestohlen", widerspricht mein Seelenverwandter, aber wenigstens hat er aufgehört zu weinen.
„Und es durch ein so viel besseres ersetzt", erwidere ich und bin meiner Stimme unendlich dankbar dafür, dass sie sich so stark anhört.
Ich sammle meine Kräfte und lege meine Hand dann langsam auf Louis' Wange. Er ist immer noch wunderschön. Wunderschön, das war auch das Wort, das mir bei unserer ersten Begegnung für ihn in den Kopf gekommen war. Und es war auch das Wort, das er zu mir gesagt hatte. Ob er sich dabei so wie ich im Moment gefühlt haben muss?
„Ich liebe dich", murmelt er mit geschlossenen Augen und lehnt seinen Kopf gegen meine Hand.
Einen kurzen Augenblick verweilen wir so, dann blickt er mich erneut mit seinen hellen Augen ernst an. „Du weißt, was Daves Befreiung bedeutet."
Ich nicke.
Es gibt jetzt kein Zurück mehr.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...