prologue

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Eine streng aussehende Frau, die ihre weißgrauen, hier und da mit dunkleren Strähnen gezierten Haare in einen straffen Dutt nach hinten gebunden hatte, stolzierte majestätisch vor der schwarzen Kreidetafel ab.

Zu ihrer Rechten befanden sich mehrere Tische, hinter denen aufrecht und mit aufmerksamen, ehrfürchtigen Blick ihre jungen Schülerinnen und Schüler saßen. Sämtliche Kinder konnten nicht älter als sieben oder acht Jahre alt sein.

„Thomas", herrschte sie nach einer Weile einen hellgrauhaarigen, sommersprossigen Jungen mit mausgrauen Augen an, der vielleicht nicht ganz so aufrecht wie seine Mitschüler gesessen hatte und dieser starrte die Frau vor sich erschrocken an.

Ängstlich erhob er sich von seinem Stuhl und stellte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen gerade neben seinen Pult. „Ja, Mrs Cooper?"

Sie bedachte ihn mit einem kritischen Blick.

„Nenn mir eine der Goldenen Fünf", forderte sie ihn barsch auf und seine Miene beruhigte sich kaum merklich.

„Niemand über ...", er verschluckte sich an seinen eigenen Worten, hustete kurz und begann dann erneut, dieses Mal mit klarer und deutlicher Stimme: „Niemand ist über die Familie zu stellen."

Ohne ein einziges Wort des Lobes schritt die Lehrerin weiter.

„Setzen", befahl sie grob und suchte mit ihren grauen, harten Augen ihr nächstes Opfer.

„George, nenne mir die letzte der Goldenen Fünf", forderte sie dann einen kleinen Dunkelhaarigen auf, der wie von der Tarantel gestochen aufsprang, sich dabei das Knie schmerzhaft an seinem Schreibpult stieß und einen riesigen Lärm verursachte, allerdings im Gleichgewicht blieb und das Kinn danach mit einer Mischung aus Stolz und Trotz empor reckte.

„Ja, Mrs Cooper?", sagte auch er, jedoch funkelten seine Augen herausfordernd.

„Ich habe dir meine Frage bereits gestellt", fauchte diese ihn an und der Kleine legte mutig den Kopf schief.

„Wirklich? Das muss mir wohl entgangen sein, tut mir leid, Mrs Cooper." In seiner Stimme schwang nicht ein Funke Reue mit.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zischte die älter, als sie eigentlich war, aussehende Frau: „Mira, berichte uns doch bitte von der ersten Regel."

Ein dünnes, hellhaariges Mädchen stand leise auf, sah ihre Lehrerin ohne Furcht, jedoch mit großem Respekt, an und zitierte folgsam: „Der Kontakt zu Rebellen ist ausnahmslos untersagt."

Die Ältere nickte anerkennend. „Und das bedeutet ...?"

„Rebellen sind die Menschen, die sich nicht in die Gesellschaft eingliedern", antwortete sie folgsam, „daher sind sie gefährlich für alle anderen und sollten bestmöglich umgangen werden."

Nun endlich zufrieden gab sie dem Mädchen eine Geste, sich zu setzen und wandte sich wieder dem Ungezogenen zu. „Hörst du das, George? Möchtest du auch jemand werden, der von allen anderen gemieden wird?"

Er schüttelte den Kopf.

„Dann benimm dich. Du bist nämlich auf einem guten Weg dazu."

Sie bedachte den ungezogenen Schüler mit einem funkelnden Blick.

„Wie lautet nun die letzte Regel, George?", wollte sie herausfordernd wissen und sah dem Jungen mit ihren stahlgrauen Augen direkt in die seinen, die die bedrohlich dunkle Farbe eines herannahenden Gewitters hatten.

Eine kurze Zeit lang lieferten sie sich ein Blickduell, bis der Jüngere schließlich geschlagen auf seine Füße schaute, bevor er seine Augen wieder auf die strenge Lehrerin richtete.

„In einem Gespräch gilt es stets, Augenkontakt zu pflegen", zitierte er artig und nun endlich nickte die Frau mit dem Dutt zufrieden.

„Schreib dir das hinter die Ohren!"

Letztendlich drehte sie sich auf den Hacken um, ging mit energischen Schritten nach vorn und musterte die Schüler prüfend.

Graue Haare, graue Gesichter, graue Kleidung. Alles in diesem Raum war grau. Alles in ihrer Welt war grau.

Nein, nicht ganz. Ihr Mann, der hektische Büroarbeiter, der das Haus morgens immer als Erster verlassen hatte und erst spät abends wieder zurückgekehrt war. Er hatte einmal wunderschön ausgesehen. Leuchtend, nahezu strahlend, sodass sie sein Anblick fast geblendet hatte. Sie hatte Farben gesehen, die sie nie zuvor in ihrem Leben erblickt hatte und die sie auch nie wieder sehen würde. Farben, die sie weder beschreiben, noch benennen konnte. Kein Grau. Etwas Anderes, Unbeschreibliches.

Wie sollte sie diesen Kindern etwas beschreiben, was sie niemals gesehen hatten?

„Die zweite Regel, Louisa?"

Ein kleines Mädchen stand auf.

„Der Seelenverwandte wird unausweichlich zum Partner für's Leben", sagte sie sofort und ohne, dass ihre Lehrerin es von ihr verlangt hatte, fuhr sie fort: „Der Seelenverwandte ist eine Person, die perfekt zu dir passt. Der einzige Mensch, den man farbig sieht."

Sie betonte das ihr unerklärliche Wort ganz besonders.

In diesem einen Falle konnte die sonst so kritische Lehrerin es ihr nicht übelnehmen, denn wie sollten sich die ahnungslosen Schüler etwas vorstellen, was sie nicht kannten. Sie selbst hatte ja nichts unter dem Begriff verstanden, bis sie es am eigenen Leibe erlebt hatte.

„Jemand soll mir die übrig gebliebene Regel nennen", befahl sie und sofort zeigte die kleine Mira – ein vielversprechendes Mädchen mit Eltern, die eine wichtige Rolle in der Regierung spielten – auf.

„Der nach dem Schulabschluss ausgewählte Beruf ist gewissenhaft und verpflichtend anzutreten", meinte sie vorbildlich und die Größere nickte erneut zustimmend.

„In Ordnung, Kinder, der Unterricht ist für heute beendet."

Während sie zusah, wie die kleinen schwarzweißen Gestalten ihre Sachen packten und in geordneten Paaren das Klassenzimmer verließen, dachte sie über die Zukunft ihrer Schüler nach.

Einige von ihnen, sie dachte an Mira oder Louisa, würden sich perfekt in die Gesellschaft einfügen und eine Arbeit zugeteilt bekommen, die sie ordentlich ausführen würden.

Doch andere, George zum Beispiel, würden höchstwahrscheinlich keinen Beruf bekommen. Sie würden als Rebellen enden und es tat ihr fast ein wenig leid für die noch so jungen Kinder, die später einmal in den Abgründen der Gesellschaft leben würden.

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt