19th chapter

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„Louis", sage ich nach einer unbestimmten Zeit, in der ich mir die beiden Bilder mit ihm und seiner Schwester genauer angesehen habe, sodass ich mir nun sicher bin, kein einziges Detail davon zu vergessen.

Als er nicht reagiert, streiche ich langsam über seinen Arm, woraufhin er erschrocken zu mir herumfährt.

Er sieht hinunter auf meine Hand, die noch immer an seinem Arm ruht und dann wieder zu mir.

„Was ist los?", fragt er überrascht und vielleicht sogar ein wenig überfordert.

„Wir müssen reden", erkläre ich ihm, während ich meine Hand hastig zurückziehe.

Fragend sieht er mich an. „Worüber?"

Mit einer ausladenden Bewegung schließe ich sowohl den Wohnwagen als auch uns beide ein. „Über das alles hier. Wie stellen wir uns unsere Zukunft vor?"

Er zuckt nur mit den Schultern. Keine sonderlich hilfreiche Antwort.

„Vielleicht warten wir einfach ab und schauen, was noch so alles kommt ...", meint er ausweichend, doch ich schüttele den Kopf.

„Von uns wird erwartet, dass wir heiraten. Heiraten, verstehst du? Und das heißt gleichzeitig auch, dass wir über kurz oder lang zusammenziehen müssen. Wir können ja wohl schlecht hier wohnen, aber in der Stadt noch viel weniger, die Regierung würde herausfinden, dass du ein Rebell bist!"

Erst durch seinen verletzten Blick wird mir bewusst, was ich gerade gesagt habe.

„Wir können hier also nicht wohnen, wie?", wiederholt er gekränkt und ich sehe mir das winzige, rostige Etwas an, das er seinen Wohnwagen nennt.

Ich kann mir tatsächlich nicht vorstellen, auf so engem Raum mit einer anderen Person zu leben, doch das war es nicht einmal, was ich mit meinen Worten sagen wollte.

Als ich bemerke, wie falsch es für ihn geklungen haben muss, schießt mir das Blut in die Wangen.

„Ich meine damit, dass ich es meinen Eltern nie antun könnte", versuche ich zu erklären, habe aber das dumme Gefühl, dass ich die Situation dadurch nur noch schlimmer mache. „Weißt du, sie mögen Rebellen nicht sonderlich, das dürftest du wahrscheinlich auch schon mitbekommen haben. Wie sollte ich ihnen je erklären können, dass ich mich freiwillig zu einem mache?"

Er nickt nur.

„Außerdem", füge ich noch an, „würde mir das gleichzeitig auch die Fähigkeit nehmen, dich in Farbe sehen zu können. Die Regierung würde es mir nehmen, sobald sie herausgefunden hat, dass ich hier lebe und glaube mir, meine Eltern würden wahrscheinlich noch höchstpersönlich dafür sorgen, dass sie es auf jeden Fall tut."

Er schluckt, nickt erneut und beißt sich auf die Lippe.

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit, das weißt du", wispert er und sieht blinzelnd aus dem schmalen Fenster. „Ich könnte es dir nicht übelnehmen, wenn du dich dafür entscheidest."

Ich weiß sofort, wovon er spricht.

Wenn ich wollte, könnte ich freiwillig zur Regierung gehen, melden, dass bei mir wohl ein Fehler existieren muss und eine Spritze bekommen, die dafür sorgen würde, dass ich jemand anderen bunt sehen würde.

Doch nach dem, was Louis mir erzählt hat, bin ich mir nicht mehr sicher, was sie mit mir oder ihm wirklich anstellen würden.

Vielleicht würden wir beide im Gefängnis landen oder ganz einfach getötet werden.

Wer weiß, wie häufig dieser Fehler ist, ohne dass die Bevölkerung etwas davon mitbekommt?

Ich merke, dass ich damit beginne, die Regierung in immer mehr Punkten anzuzweifeln und weiß noch nicht, ob ich es gut finde.

„Nein", antworte ich ihm also entschlossen, „ich werde nicht zur Regierung laufen. Das kannst du vergessen."

Er sieht mich einen Augenblick lang prüfend an.

Von der wunderschönen, kalten Farbe seiner Augen werden meine Beine ganz weich.

„Es würde die Dinge einfacher machen", stellt er fest.

„Das ist nicht wahr", flüstere ich erschrocken zurück. „Es würde alle anderen glauben lassen, die Dinge wären einfacher, aber für uns beide würde das Problem damit erst anfangen."

Seufzend fährt er sich durch die dunklen Haare und setzt sich auf den Stuhl, bevor er merkt, dass ich immer noch stehe, sich erhebt, mir den Stuhl anbietet und sich selbst auf den ausklappbaren Tisch setzt.

„Okay", meint er schließlich. „Wir könnten damit anfangen, eine Beziehung zu führen."

Perplex starre ich ihn an.

„Eine ... Beziehung?", keuche ich.

„Sei doch nicht so verklemmt, du weißt genau, was ich meine. Wir haben noch keine Lösung für die Zukunft, aber vor allem deine Eltern werden misstrauisch werden, wenn wir uns nicht bald ein wenig mehr annähern."

„So führt man keine Beziehung, Louis!", rufe ich protestierend aus. „In einer Beziehung kennt und vertraut man einander. Man unternimmt gemeinsam etwas. Man weiß über den anderen Bescheid, man lernt, was seine Schwächen und Stärken sind. Und du willst mir nicht einmal erzählen, warum du deine Schwester nicht sehen willst!"

Schon wieder fällt mir erst im Nachhinein auf, wie hart meine Worte klingen und ich wünsche, ich könnte sie zurücknehmen.

Er presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

„Tut mir leid ...", beginne ich schuldbewusst, doch er hebt die Hand und bringt mich damit zum Schweigen.

„Ich will meine Schwester nicht sehen", erklärt er dann und macht eine kurze Pause, um mich noch einmal skeptisch anzublicken, „weil es alles nur noch komplizierter machen würde. Sie würde sich um mich sorgen, sie würde versuchen, mir zu helfen. Ich habe schon dich, ich brauche keine weiteren Probleme."

Jetzt ist er an der Reihe, die Augen erschrocken aufzureißen, als er bemerkt, was er gesagt hat.

„Ich meinte", versucht er sich zu erläutern, „dass die Leute jetzt schon reden. Sie erkennen sofort, dass du kein Rebell bist und fragen sich, was du hier tust. Es ist schon schwierig genug, das bei einer Person zu erklären, aber bei zweien wäre es so gut wie unmöglich!"

„Ich verstehe", murmele ich leise und nicke. „Und trotzdem sind wir durch dieses eine gelüftete Geheimnis noch in keiner Beziehung. Alles braucht seine Zeit."

Er nickt. „Vermutlich hast du recht. Es wird seine Zeit brauchen ..."

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt