Die Straße vor mir ist, auch wenn das wohl kaum möglich sein kann, noch grauer, als der Rest dieser Stadt. Die Häuser zu beiden Seiten sehen abgewrackt und schäbig aus und die wenigen Leute, die hier entlanglaufen, sind ebenso schäbig gekleidet. Überall sehe ich mürrische Gesichter, kein einziger Mensch lacht oder lächelt hier.
Wenn ich nach hinten blicke, sehe ich einen hohen Maschendrahtzaun, an dessen oberer Seite Stacheldraht befestigt ist. Nur ein Tor führt hindurch, durch das auch wir gekommen sind.
„Willkommen in meiner Welt", sagt Louis bitter und breitet die Arme aus, um die ganze schäbige Straße einzuschließen. „Und hier hätte ich für Ada Medikamente besorgen sollen? Guter Witz."
Ich schlucke und widerstehe dem Drang, mich umzudrehen und diese dreckige Gegend zu verlassen. Es würde ihn nur darin bestätigen, dass ich ein verwöhntes Stadtmädchen bin, deren Eltern viel Macht und viel Geld haben – denn genau das muss ich für ihn sein.
Jetzt erst fällt mir auf, wie ungemein protzig das Haus, in dem ich lebe, auf ihn wirken muss.
Für mich war der schön angelegte Garten mit den duftenden Blumen, der neue Firmenwagen meines Vaters oder mein eigenes Zimmer immer völlig normal. Ich habe nie damit angegeben oder mir eingebildet, ich sei deswegen etwas Besseres, aber da die meisten meiner Freunde ebenfalls einen solchen Luxus hatten, war es für mich einfach immer normal.
Nun allerdings schäme ich mich für die teuren Markenklamotten, die ich trage, vor allem, da mich sämtliche Personen auf dieser Straße anstarren, als wäre ich ein Alien.
Sie wissen, dass dies nicht meine Welt ist und ich noch weniger hierher passe.
„Wohnst du hier?", wispere ich und halte mir erschrocken die Hand vor den Mund.
Mit einer gewissen Befriedigung beobachtet er meine geschockte Reaktion.
„Nein", meint er spöttisch, „das ist doch viel zu luxuriös. So etwas könnte ich mir nie leisten."
Ich weiß nicht, ob er es ernst meint oder mich provozieren und auf den Luxus, den ich besitze, anspielen will.
„Tut mir leid", entschuldige ich mich und folge ihm dann wortlos weiter.
Warum ich mich entschuldige, weiß ich selbst nicht genau.
Vielleicht, weil es ihm so schlecht geht und mir so gut? Aber eigentlich haben die Rebellen einen Luxus ja auch nicht verdient. Schließlich tun sie nicht das Geringste, um unser System am Laufen zu halten. Sie arbeiten nicht – jedenfalls nicht offiziell, manche Leute stellen sie jedoch für wenig Geld illegal an – und müssen von ihren Familien mit versorgt werden. Haben sie keine Verwandten, zahlt der Staat ihnen einen geringen Betrag, sodass sie sich am Leben halten können.
Ich frage mich, ob Louis Familie hat, die ihm Geld gibt. Sehr viel scheint er jedenfalls nicht zu besitzen, wenn er sich nicht mal ein Essen in einem Café leisten kann ...
Ich kann mich daran erinnern, dass er seine Eltern einmal erwähnt hat, aber vielleicht war das auch nur Teil der Lüge. Generell hat er nie viel über sich erzählt.
„Du scheinst es ja wirklich ernst zu meinen, mir zu folgen", bemerkt er irgendwann und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Wir müssen klären, was wir jetzt tun", sage ich trotzig und er zuckt mit den Schultern, während er rückwärts weitergeht, um mich beim Sprechen ansehen zu können.
„Schöne Scheiße, was? Der Märchenprinz ist gar kein Prinz, sondern hat sich in einen Bettler verwandelt."
Ich zucke kaum merklich zusammen.
„Louis, versteh mich nicht falsch ...", setze ich zögerlich an. „Ich habe dich wirklich gemocht, aber du kannst ganz einfach nicht gut sein. Es liegt nicht in der Natur der Rebellen."
Doch noch während ich das sage, überlege ich, ob es überhaupt stimmt. Ich habe selbst schließlich noch nie einen Rebellen kennengelernt, um sagen zu können, dass dieser keinen guten Charakter hatte.
„Jetzt kommen also wieder die Vorurteile", seufzt er.
„Und wenn du nicht wüsstest, wer ich wäre?", fragt er mich dann herausfordernd, „Wie fändest du mich dann? Wäre ich dann immer noch dein Märchenprinz?"
Ich schlucke, da ich merke, dass er recht hat.
Wüsste ich nicht, dass er ein Rebell ist, würde ich es ihm auch nicht anmerken. Jedenfalls nicht vom Charakter her.
Und wie böse kann ein Mensch sein, der sich für seine Freundin unter all die Leute wagt, die ihn hassen, nur um Medizin zu bekommen?
Und der einem jungen, verwöhnten Mädchen wie mir vorspielt, er sei ganz normal, um ihm nicht den Traum einer Seelenverwandtschaft zu nehmen?
Plötzlich gerate ich ins Schwanken.
„Überzeuge mich", bringe ich schließlich hervor und er horcht auf. „Überzeuge mich davon, dass du nicht so bist, wie alle sagen. Zeig mir, dass du ein Mensch wie jeder andere bist, wenn du willst, dass ich dich wie jeden anderen auch behandle!"
„Wie soll das gehen?", will er wissen und fährt sich durch die Haare. „Wie soll ich dir denn zeigen, dass ich normal bin? Ich tue mein gesamtes Leben nichts anderes, als normal zu sein, aber beweisen kann ich das nicht!"
„Nicht normal", widerspreche ich, „besonders, aber im guten Sinne."
Er sieht mich lange an.
Letztendlich wird die Stille zwischen uns beiden von einer anderen Stimme durchbrochen.
„Lou?", ruft sie erstaunt. Sie ist tief, rau und gehört zu einem breitschultrigen, dunkelhäutigen Mann. „Was macht das Stadtmädchen hier?"
Eine weitere Gestalt folgt ihm. Es ist ein zierliches, hübsches Mädchen, das fast ein wenig elfenhaft wirkt.
„Bobo, Ada, das ist Mira", stellt Louis mich vor und lächelt gequält.
Das sind also seine Freunde.
„Und was will sie hier?", fragt der als Bobo angesprochene Mann.
Sein Name passt rein gar nicht zu seiner autoritären Erscheinung.
„Mich kennenlernen", antwortet mein Seelenverwandter knapp.
Feindselig mustert mich sein Freund.
„Sie wird dich niemals annehmen. Das liegt einfach nicht in der Natur der Stadtmenschen", knurrt er und ich schrecke zurück.
Es gibt wohl nicht nur auf meiner Seite Vorurteile.
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...