28th chapter

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Ich bin den Weg erst einmal gelaufen, das letzte Mal mit Louis zusammen, deshalb verlaufe ich mich zweimal, bis ich die unscheinbare, dunkle Gasse wiederfinde, die so eng ist, dass ich mich mit dem Rücken an die Hauswand pressen muss, um hindurchzupassen.

Ich kann mir tatsächlich vorstellen, dass es als Kind sehr aufregend gewesen sein muss, so etwas zu entdecken. Vor allem wird es wahrscheinlich ein fantastisches Versteck gewesen sein.

„Louis?", rufe ich in die Dunkelheit hinein, erhalte allerdings keine Antwort.

Kaum verwunderlich, denn, wenn ich recht behalte und meine Vermutung stimmt, ist er schätzungsweise fünfzig bis hundert Meter über mir. Natürlich kann er mich dann nicht hören.

Erleichterung durchströmt mich, als ich die Treppe erkenne, die steil nach oben führt und sich an der Rückwand des Hochhauses entlang schlängelt. Ich habe es tatsächlich gefunden!

Mit neu gewonnenem Mut mache ich mich an den Anstieg und bin schon nach nicht einmal der Hälfte außer Puste.

Trotzdem drossele ich mein Tempo nicht, sondern steige immer eine Stufe nach der anderen empor, bis ich japsend und keuchend oben auf dem flachen Dach angekommen bin.

Erschöpft stütze ich mich mit den Händen auf meinen Knien ab und ringe nach Luft.

Als ich mich aufrichte, erkenne ich eine Gestalt, die mir den Rücken zugewendet hat und sich an das Geländer lehnt. Allein daran, dass mir die Farben sofort ins Auge springen, erkenne ich, dass es sich um Louis handelt.

Schweigend laufe ich zu ihm und lehne mich neben ihm an das Geländer.

Obwohl er meine Schritte gehört haben muss und noch dazu garantiert aus dem Augenwinkel sieht, dass eine weitere Person neben ihm steht, zeigt er keine Reaktion, allerdings weiß ich trotzdem, dass er mich bemerkt hat.

Er starrt einfach nur in die Ferne und überblickt die Stadt in all ihrer Weite.

„Es ist meine Bestimmung", meint er dann plötzlich und ohne seinen Blick abzuwenden.

„Was?", frage ich verwirrt und komme mir ein wenig dumm vor.

„Es ist die Bestimmung meiner Schwester, eine Krankenschwester zu sein und sich um die Hilfsbedürftigen zu kümmern. Es ist deine Bestimmung, Mira, eine Lehrerin zu sein und den Kindern die Welt zu erklären. Und es ist meine Bestimmung, ein Rebell zu sein. Es ist meine Bestimmung, die Welt, in der wir leben, zu verändern. Schon immer habe ich das so gesehen. Schon immer habe ich das Wort 'Rebell' nicht wie alle anderen als ein Synonym für 'Außenseiter' oder sogar 'Verbrecher' gesehen. Ein Rebell zu sein, bedeutet, sich gegen etwas aufzulehnen. Seine Meinung deutlich zu vertreten und nicht nach den Spielregeln der anderen zu spielen. Das mag in manchen Fällen schlecht sein, aber ich glaube daran, dass wir nicht umsonst auserwählt wurden. Wir sind nicht die Außenseiter, Mira, wir sind der Beginn einer neuen Welt. Und ich hoffe, dass diese Welt eine farbige sein wird."

Erst jetzt wendet er seinen Blick ab und sieht mich mit seinen hellen Augen mit einer solchen Intensität an, dass mir augenblicklich eine Gänsehaut über den Körper läuft. Seine hübsche Augenfarbe scheint in diesem Moment, geradezu zu strahlen.

„Wir sind auserwählt, Mira. Wir sind diejenigen, die eine neue Welt schaffen sollen. Eine Welt, in der es Freiheit für alle gibt. Eine Welt, in der jeder alles sein kann, ganz egal, was. Ich will eine Welt schaffen, in der ein Kind mit Träumen nicht weggesperrt und verachtet wird. In meiner Welt soll ein Kind seine Träume zur Realität werden lassen, ganz egal, wie verrückt sie auch sind. Es soll keine Misshandlung geben, niemanden, der wegen seiner Denkweise isoliert und abgeschoben wird. Nun gut, mein Plan hat nicht funktioniert, aber das sind nur anfängliche Schwierigkeiten. Der Weg zur Freiheit war noch nie leicht, aber ich würde mich immer und immer wieder dafür entscheiden, weil kein Preis zu hoch für ein freies Leben ist."

Und in diesem Moment wird mir so einiges klar. Mir wird bewusst, warum Louis gegen das System rebelliert und warum er sogar der Anführer einer aufständischen Gruppe ist. Wenn er mich so ansieht, wie er es gerade tut und wenn er in einem solchen Ton und mit dieser Überzeugung davon redet, wie er die Welt zu einem besseren Ort machen will, kann ich mir gut vorstellen, warum man ihm folgt. Er ist der geborene Anführer.

Und noch etwas merke ich: Louis ist weder ein Verbrecher, noch ein Außenseiter oder Dummkopf. Er selbst ist der Junge mit den Träumen, der isoliert wurde, bevor er seine Träume wahr werden lassen konnte. Er weiß, wie es ist, allein zu sein und deshalb will er dafür sorgen, dass es anderen nicht genauso geht.

Und das ist wiederum eine der selbstlosesten Dinge, die ich je erlebt habe.

Ich will ihm nicht sagen, was ich weiß. Ich will ihm nicht berichten, dass seine Träume wohl immer nur Träume bleiben werden, da die Regierung viel zu stark ist.

Wie könnte ich ihm denn seine einzige Hoffnung nehmen?

„Wo Träume sind, da ist auch Licht", sage ich also, „und wo Licht ist, da ist Hoffnung. Und Hoffnung ist der erste Schritt zur Freiheit."

Er sieht mich einen Moment überrascht, wenn nicht sogar verwundert an. Wahrscheinlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich ihm eine so poetische Antwort geben würde.

Er sieht mich noch einen weiteren Moment so erstaunt an, dann tritt er einen Schritt näher und zieht mich an sich.

Unsere Lippen berühren sich und er küsst mich.

Im ersten Moment bin ich wie geschockt und stehe stocksteif da, doch dann entspanne ich mich, lege meine Arme um seinen Nacken, ziehe ihn weiter zu mir heran und erwidere den Kuss. Sein Mund verzieht sich unmerklich zu einem Lächeln.

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt