Als wir uns voneinander lösen, sieht Louis mich lächelnd an.
„Wie ist aus dem Stadtmädchen, das ich kennengelernt habe, nur in so kurzer Zeit eine Rebellenprinzessin geworden?", murmelt er leise und schmunzelt in sich hinein, während ich die Augen verdrehe.
„Rebellenprinzessin?", wiederhole ich. „Du bist also ein Prinz?"
Er sieht mich verschwörerisch an.
„Aber sicher doch", scherzt er und ich boxe ihm spaßhaft in die Seite.
„Angeber."
Er legt einen Arm um mich und zieht mich zum Geländer, sodass wir die Stadt von oben überblicken können.
„Das alles wird vielleicht bald ganz anders sein", seufzt er und schaut träumerisch in eine weite Ferne.
Noch immer liegt sein Arm um mir und ich lächele stumm vor mich hin. Dann lege ich meinen Kopf auf seine Schulter.
„Weißt du, so funktioniert eine Beziehung", sage ich dann. „Mit sehr viel Vertrauen und Verbundenheit."
„Vertraust du mir?", fragt er mich dann und sieht mich von der Seite an.
„Ja", antworte ich, ohne zu zögern, was seine Miene für einen kurzen Augenblick aufhellt, doch dann ist dieser Moment vergangen und sein Blick verfinstert sich.
Er löst sich von mir und schiebt den Ärmel seines Pullis nach oben. „Dann zeige ich dir jetzt, was mich zu dem macht, was ich bin. Ich zeige dir, was man aus mir gemacht hat."
Sein Oberarm ist nun entblößt und lässt einen Blick auf das Tattoo frei, das man ihm verpasst hat, nachdem er verstand, dass er ein Rebell werden würde.
Es ist ein Symbol, das ich bisher nur aus dem Unterricht kenne. Unsere Lehrer haben es an die Tafel gemalt, um uns davor zu warnen, mit einer Person Kontakt zu haben, die ein solches Zeichen trägt. Es handelt sich um einen langen Strich, an dessen Seite zwei weitere, kleinere liegen. Und erst jetzt bemerke ich, dass es farbig ist.
Früher fand ich dieses Symbol immer schrecklich, ja, sogar Angst einflößend, doch jetzt, wo ich es sehe, erweckt es in mir nur Wut und Mitleid.
Genau wie die Zahl darunter, von der uns noch niemand etwas erzählt hat. Bei Louis handelt es sich hierbei um eine kleine, aber saubere 28.
„Was-", ich stocke, strecke meine Hand danach aus, berühre sein Mal dann aber doch nicht und sehe ihn stattdessen an. „Was bedeutet diese Nummer?"
„Das bin ich", erklärt er mir verbittert.
„Du?", wiederhole ich und verstehe nicht ganz, was er damit meint.
„Meine eigentliche Bezeichnung. Mein ... Name. 28."
„Achtundzwanzig", sage ich langsam.
„So hat mich die Regierung genannt, als sie bemerkt hat, dass ich wertlos für sie bin. Sie haben einer Person mit Träumen und einer eigenen Identität alles genommen und ihr dafür eine Zahl als Ersatz gegeben."
„Und Louis ...?", sage ich zögernd und er lächelt, obwohl keine Freude in seinem Gesicht zu sehen ist.
„... ist der Name, den meine Eltern mir damals gaben. Offiziell bin ich Nummer 28, aber da wir uns wohl alle einig sein können, dass es unter der Würde jedes Menschen sein sollte, als Namen nur eine Zahl zu haben, nennen wir uns weiterhin so, wie wir einmal hießen."
Es sind nur Einzelheiten, lediglich Kleinigkeiten, die ich erfahre und die die Regierung allen anderen Menschen verschweigt. Doch diese Kleinigkeiten reichen aus, um mich immer mehr auf die andere Seite – auf Louis' Seite – zu ziehen.
Erneut strecke ich meine Hand nach seinem Mal aus, berühre es diesmal auch und fahre es dann langsam nach.
„Oh, Louis", murmele ich dabei.
„Mira Maxwell", nennt er mich beim Namen, legt seine Hand unter mein Kinn und hebt dieses an. „Dich zu treffen war wohl das Beste, was mir in meinem sonst so trostlosen Leben passiert ist."
„Und dich zu treffen", erwidere ich, „war das Beste, was du für mich hättest tun können. Du öffnest mir jeden Tag von Neuem die Augen."
Er verliert sich in meinem Blick, doch dann reißt er sich davon los und sieht wieder hinunter auf die Dächer vor uns.
„Bald wird ein Brief bei dir eintreffen", sagt er mir leise. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Regierung von ihrem Fehler erfährt. Und mit ihr werden auch deine Eltern erfahren, wer und was ich bin. Du wirst dazu aufgefordert werden, dich zu melden und eine Spritze in Empfang zu nehmen, die dafür sorgen wird, dass du mich nur noch in schwarzweiß sehen wirst. Sie wird den Fehler beheben. Und wenn du viel Glück hast, wirst du vielleicht jemand anderen finden. Jemanden, der besser für dich geeignet ist."
Er sieht mich lange und eindringlich an, während mir dieser Gedanke Tränen in die Augen treibt.
„Ich werde dir nicht böse sein, wenn du dich für deine Eltern entscheidest. Ich werde dich weder dafür hassen, noch dich dafür verurteilen. Ich könnte es sogar verstehen. Du wärst in Sicherheit."
„Ich habe es dir schon einmal gesagt", meine ich entschlossen, „und ich habe meine Meinung seitdem nicht geändert. Wir sind für einander bestimmt, Louis, und das wird auch keine Spritze der Welt ändern können. Es ist kein Fehler, dass ich genau dich bunt sehe, es ist Schicksal. Und ich werde die Spritze nicht freiwillig verabreicht bekommen. Wenn sie mich kriegen wollen, werden sie kämpfen müssen."
Und dann fange ich an, zu schluchzen und vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover.
Ich denke an meine Eltern. Ich denke daran, dass ich ihr einziges Kind bin, ihr ganzer Stolz, und daran, dass ich ihnen das Herz damit brechen werde, dass Louis ein Rebell ist und damit, dass ich bei ihm bleiben möchte.
Ich denke daran, dass die Regierung mich finden wird, ganz egal, was ich mache.
Louis nimmt mein Gesicht in seine Hände und wischt mir die Tränen mit dem Daumen von der Wange.
„Shhh", macht er leise. „Es ist schon okay. Ich liebe dich, Mira. Es wird alles gut werden, das verspreche ich dir."
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Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓
FanfictionWATTYS WINNER 2020 ❝ I figured it out from black and white. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen Mira lebt in einer Welt aus Schwarz und Weiß. Sie kennt keine Farben. Doch eine Person, irgendwo dort draußen, nur eine einzige Person, die darauf wartet, gef...