Ich werde immer auf dich achten, Aura

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„Komm schon, Lucian", ruft ein kleines, schwarzhaariges Mädchen ihren großen Bruder zu. „Sei doch nicht so ungeduldig. Wir kommen schon rechtzeitig an", erwidert der braunhaariger Junge. „Aber sonst verpassen wir das Beste. Das Sommerfest hat bestimmt schon angefangen." Dem Jungen entkommt ein Lachen. „Mach dir keine Sorgen. Das Fest läuft dir schon nicht davon." Zusammen machen sich die beiden wieder auf den Weg.

Vollkommen glücklich geht das Mädchen voraus. Sie summt eine schöne Melodie. Doch achtet das Mädchen nicht besonders auf den Weg. Die Vorfreude auf das Sommerfest ist einfach zu groß.

„Aura, pass auf!", hört sie die aufgeregte Stimme ihres Bruders. Erschrocken dreht sie sich um. In diesem Moment wird sie zur Seite gestoßen und landet auf dem harten Boden. Dabei erleidet sie leichte Schürfwunden. Kurz darauf erfasst ein Auto ihren Bruder. Wie versteinert sieht das junge Mädchen auf den leblosen Körper des Jungen. Nur langsam realisiert sie, was gerade passiert ist. Ihr Bruder hat sie gerettet. Tränen sammeln sich in den blauen Augen des Mädchens. „Lucian?" Vorsichtig krabbelt sie auf ihren Bruder zu. „Lucian, wach auf." Das Mädchen fängt an zu weinen. Sie versucht ihren Bruder wachzurütteln. Doch vergebens. Er wird einfach nicht wach. „Lucian! Du kannst mich nicht allein lassen", ruft das Mädchen voller Verzweiflung. Immer mehr Tränen laufen über die Wangen der Kleinen.

In der Ferne vernimmt sie eine Sirene. Der Fahrer des Autos muss wohl den Krankenwagen gerufen haben. Noch immer versucht das schwarzhaarige Mädchen ihren Bruder wach zu bekommen. „Geht... es dir gut, Aura?", hört sie die leise, brüchige Stimme ihres Bruders. Mit geröteten Augen sieht sie ihn an und nickt. „Ja. Dank dir." „Schön. Ich werde immer auf dich achten, Aura. Vergiss das nicht." Das sind die letzten Worte ihres Bruders. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen wird er wieder bewusstlos. „Lucian!"

Kurz darauf taucht der Krankenwagen auf. Allerdings können die Sanitäter nur noch den Tod des Jungen feststellen.

Um mich herum verdunkelt sich alles. Ich bin in vollkommener Dunkelheit. Wo bin ich? „Ich kann ihn dir zurückholen", vernehme ich eine fremde Stimme. „Wer bist du?" „Komme zu mir, Aurora. Dann werde ich dir deinen geliebten Bruder zurückholen." „Wer bist du?", stelle ich meine Frage erneut. „Das erfährst du noch früh genug. Einer meiner Untertanen wird dich abholen. Bis dahin kannst du es dir überlegen. Aber überlege es dir gut. Es ist ein einmaliges Angebot. "

Schweißgebadet werde ich wach und setze mich auf. Ein Traum. Eilig wische ich mir über die Stirn. Meine Haare, die mir ins Gesicht hängen, streiche ich zurück. Mein Bruder. Lucian. Er ist Tod. Wegen mir. Aber was sollte der letzte Teil bedeuten? Kann mir mein Bruder wirklich zurückgebracht werden? Ich vermisse ihn. Sehr. An sich sollte es doch unmöglich sein einen Toten zurückzuholen. Aber warum sollte es mir dann angeboten werden? Ich ziehe meine Knie an meine Brust und lege meinen Kopf darauf ab. Egal wie. Egal was kommt. Ich werde ihn zurückholen. Das bin ich ihm schuldig. Immerhin bin ich schuld an seinem Tod.

„Alles okay?", höre ich die Stimme von Koji. Erschrocken richte ich meinen Blick auf ihn. Er sitzt mir direkt gegenüber. Erst jetzt realisiere ich, dass ich mich in einem Trailmon befinde. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigt, dass es mitten in der Nacht ist und wir auf den Weg zu einem rosenförmigen Stern am Himmel sind. Das muss der Stern der Rosen sein, den Ophanimon angesprochen hat. Dann müssen die anderen die gleiche Nachricht erhalten haben. Kurz sehe ich mich im Abteil um. Der Rest der Gruppe scheint tief und fest zu schlafen.

„Warum bist du noch wach?" „Auch wenn wir in einem Trailmon sind, besteht die Gefahr angegriffen zu werden." Damit liegt er gar nicht mal falsch. „Also alles okay?", wiederholt er seine Frage. Soll ich es ihm wirklich erzählen? Leicht schüttle ich den Kopf. Andererseits scheinen die anderen zu schlafen. Sie werden nichts mitbekommen. Vielleicht hilft es mir, wenn ich mit einem Unbeteiligten darüber rede. „Ich werde auch nichts weiter erzählen", verspricht Koji mir. Ich seufze leise auf und setze mich richtig hin. „Du hast keine Geschwister, habe ich recht?", frage ich nach. „Nein. Ich bin ein Einzelkind." Erneut seufze ich leise auf. „Bis vor vier Jahren hatte ich noch einen großen Bruder", fange ich langsam und vorsichtig an. „Was ist passiert?" „Mein Bruder Lucian wollte mit mir zu einem Sommerfest gehen", erzähle ich weiter. Dabei schleicht sich ein trauriges Lächeln auf meine Lippen. „Ich war sehr ungeduldig und mir konnte es nicht schnell genug gehen, um zum Sommerfest zu kommen. Daher habe ich nicht auf den Weg geachtet. Erst als er mich gerufen und zur Seite geschubst hat, habe ich langsam realisiert, was passiert. Anstelle von mir wurde er von einem Auto angefahren. Noch an der Unfallstelle ist er gestorben. Selbst in seinen letzten Momenten war ich seine kleine Aura." Ich merke, wie mir langsam die Tränen in die Augen steigen. „Deshalb bist du ausgerastet, als Takuya dich am Strand Aura nannte", stellt mein Gegenüber fest. „Ja. Nur Lucian durfte mich so nennen. Meine Eltern geben mir nach all den Jahren immer noch die Schuld an seinem Tod. Und sie haben recht. Wenn ich besser aufgepasst hätte, würde mein Bruder noch leben." Meine Tränen kann ich nicht mehr zurückhalten. Damit Koji diese nicht sieht, senke ich meinen Kopf und lasse meine Haare mein Gesicht verdecken. Ich mag es nicht, wenn jemand sieht, wie ich schwäche zeige.

„Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war", erzählt Koji mir, „Ich wohne bei meinem Vater und seiner neuen Frau." Ruckartig hebe ich meinen Kopf an. Damit habe ich nun nicht gerechnet. „Das... wusste ich nicht. Tut mir leid." Tatsächlich fällt mir darauf nichts anderes ein. „Schon gut."

Eilig wische ich mir die noch laufenden Tränen weg. Koji steht auf und setzt sich direkt neben mich. Was läuft denn jetzt ab? „Du solltest dir nicht die Schuld an seinem Tod geben", fängt Koji an, „Er wollte sicherlich nicht, dass du dir Vorwürfe machst." „Ich weiß. Aber das sagt sich so einfach. Das schlimmste ist ja, dass ich dieses Jahr nicht mal sein Grab besuchen kann." Bewusst erzähle ich nichts von dem zweiten Teil meines Traums. Zuerst muss ich herausfinden, was dieser zu bedeutet hat und ob ich meinen Bruder wirklich zurückholen kann. „Ich denke, dein Bruder würde das verstehen", meint Koji, „Sobald wir wieder in unserer Welt sind, kannst du ihn ja besuchen."

„Aurora, du bist wieder wach", kommt es erleichtert von Tommy. Der Rest der Truppe wird wohl langsam wach. Dann ist das Gespräch zwischen Koji und mir beendet.

„Geht es dir gut?", erkundigt sich Zoe. „Warum bist du umgekippt?", fragt Takuya nach. „Ich weiß es nicht. Mir ist ganz plötzlich einfach schwarz vor Augen geworden und dann war ich weg", antworte ich wahrheitsgemäß. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, warum ich ohnmächtig geworden bin. Vielleicht hat diese fremde Stimme etwas damit zu tun.

In diesem Moment betritt ein Digimon mit Burgermütze das Abteil: „Kann ich euch etwas Leckeres zum Frühstück anbieten?" „Oh ja!", verkündet Zoe. „Hast du denn Geld?", fragt Takuya nach. Enttäuscht lässt Zoe den Kopf hängen und das Digimon geht weiter.

Bokomon quietscht plötzlich auf. „Es hat sich bewegt! Mein Baby hat sich bewegt!" Anschließend streicht er über das Digiei. „Gutes Digimon. Braves Digimon." Wenn das die ganze Zeit über so weiter geht, krieg ich die Krise. Ganz ehrlich.

„Endstation! Raus mit euch!", verkündet das Trailmon.


Der Wächter der DigiweltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt