Zuma hatte alle Wurfmesser, die wir auf unserer Flucht mitgenommen hatten, bei sich. Ich stand also ohne eine Waffe auf einem der meterhohen Plateaus und musste mitansehen, wie einer meiner Feinde geradewegs zu mir geführt wurde. Wieso musste ausgerechnet Xylon Dalibor hierherfinden? Jeder anderer aus seinem Heer wäre mir lieber gewesen, aber das Schicksal, oder wer auch immer seine Finger im Spiel hatte, schien andere Pläne mit mir zu haben.
Wenigstens konnte Roan fliehen, das erleichterte meine Sorgen ein bisschen. Obgleich ich mir nicht sicher sein konnte, ob er auch wirklich nach Zuma suchte, oder mich im Stich lassen würde, sobald er seine Leute gefunden hatte. Doch etwas in meinem Inneren zweifelte daran, dass er mich verraten würde, während die Stimme der Vernunft in meinem Kopf mir immer wieder vorhielt, dass er ein Pirat war. Ein Mensch, dem ich nicht trauen sollte.
Ein lautes Aufkeuchen riss mich aus meinen Gedanken und ich blickte auf, erkannte Xylon, der von einigen der Einwohnern Primins zu mir gebracht wurde. Sofort schritt ich rückwärts und hielt meine Hände schützend vor mich, aber die kleine Gruppe blieb nicht stehen, sondern lief weiter auf mich zu. Meine Muskeln kribbelten, spannten sich an und erinnerten sich an die Techniken, die mich Zuma gelehrt hatte. Einige Handgriffe zur Verteidigung, aber auch zum Angriff. Ich schluckte, ließ meine Erinnerungen einen Moment in die Vergangenheit schweifen, ehe ich mich zusammenriss.
Xylon erkannte mich in der Sekunde, als sich unsere Blicke trafen und das Erste, an das ich dachte, waren seine unnatürlich weißen Haare. Sie zogen alle Aufmerksamkeit auf sich, auch wenn ich mich dazu zwingen wollte, nicht den Fokus zu verlieren, geschah es dennoch. Auch er starrte mich an, musterte jede meiner Bewegungen und schien seine nächsten Schritte zu planen. Das Blau seiner Augen funkelte gefährlich und auch in seinem Gesichte sah ich keine Angst. Keine Furcht und keinen Zweifel. Er wirkte selbstsicher, obwohl er völlig durchnässt und abgekämpft sein musste. Die sonst so eindrucksvolle, blau und weiß gemusterte Uniform der Soldaten Minerras musste er wohl verloren haben, jedenfalls trug er nur noch ein Hemd und die abgewrackte Hose.
„Prinzessin", hörte ich ihn gedämpft sagen und musste mich in den Oberschenkel kneifen, um meine Konzentration zurückzuerlangen. „Ihr seid noch am Leben."
„Gerade so", entgegnete ich streng und straffte meine Schultern. „Ihr habt unser Schiff zum Untergang gebracht. Wusstet Ihr etwa nicht, dass ich mich an Bord befand?"
„Er hat was?!", brüllte jemand über uns. Darauf folgte ein Rascheln, Blätter regneten auf uns nieder und dünne Äste knickten ab. Dann ein Knall und dieser jemand landete direkt zwischen mir und Xylon. „Du hast ein Schiff angegriffen, auf dem sich Calea befand?", schnaubte Fraud, der sich aus den Wipfeln des Waldes hatte fallen lassen. „Wie konntest du nur?"
„Und wer ist dieser unhöfliche Kerl?", fragte Xylon recht unbeeindruckt und ignorierte Frauds Fragen.
„Tse", machte der Rothaarige und wandte sich mir zu. „Er wollte dich also töten?"
„Nun ja", wisperte ich. „Zu aller erst wollte er mich nach Lupora bringen. Nachdem er samt Heer in Niiro eingedrungen war."
„Wieso nach Lupora?", hakte Fraud weiter nach und ich sah hinter ihm, wie Xylon die Augenbrauen angespannt zusammenzog. „Was hättest du da verloren?"
„Wenn es nach Xylon Dalibor und Valor Meliahein gegangen wäre, würde ich jetzt vermutlich vor dem Traualtar stehen und Valor heiraten", erklärte ich so ruhig und neutral klingend wie möglich. Leider schien dieser Versuch nicht sonderlich zu funktionieren, da Frauds Miene sich verfinsterte.
„Aber Ihr hattet andere Pläne", knurrte Xylon.
„Dafür werde ich mich auch nicht entschuldigen", entgegnete ich und machte einen Schritt auf ihn zu, nur um von Fraud aufgehalten zu werden. Seine Hand packte meinen Oberarm und riss mich zurück an seine Seite.
„Werft diesen Mann in einen Käfig nahe des Sees", delegierte der Rothaarige die drei Männer, die den Vers Minerras in Schach halten sollten. „Er hat in diesem Dorf nichts verloren, wenn er sich gegen den Adel Ameeris stellt und Calea Amante bedroht."
Die Männer nickten und ergriffen Xylon, kesselten ihn zwischen sich ein. Er wehrte sich nur wenige Male, schlug eine Hand von sich und warf einen der Männer zu Boden. Doch ihre Überzahl und seine Erschöpfung reichten aus, um ihn in die Knie zu zwingen. Mein Magen zog sich währenddessen zusammen.
„Ihr könnt den Piraten gleich mitnehmen", fügte Fraud dann hinzu und mein Herz setzte gleich mehrere Schläge aus, was meinen Kreislauf fast zusammenbrechen ließ. Ich sackte kurz weg, aber Fraud hielt mich fest in seinen Armen, schien nun besorgter und vergaß wohl kurz, dass er die Eindringlinge allesamt in Käfige sperren wollte. „Alles in Ordnung, Calea?"
Ich würde lügen, wenn ich seine Frage bejahte, aber ich musste ihn davon abhalten, nach Roan zu sehen. Und festzustellen, dass dieser verschwunden war. Rasch schaute ich mich um, doch viele Möglichkeiten boten sich mir hier im Blätterdach des dichten Waldes nicht gerade.
„Mist!", schimpfte einer der Männer plötzlich und schlug krachend auf dem Holzboden auf.
Xylon hatte sich kurz vor einem der Abgänge zum Waldboden befreien können und hangelte sich nun die Seile hinab. Keine Ablenkung, die ich herbeigesehnt hätte, aber sie reichte aus, um im Dorf einen Tumult auszulösen. Aus allen Richtungen drängten Neugierige heran, während die Wachmänner sich ebenfalls die Bäume hinabließen, teils ohne Sicherung an der Rinde der Stämme hinabglitten. Auch Fraud ließ von mir ab und folgte ihnen herunter. Es dauerte nur Momente, da hatten sie den Flüchtenden wieder umzingelt und gefesselt.
Ich nutzte die kurze Panik, um mich ebenfalls über eine der Leitern auf die Erde zu begeben. Den leicht feuchten Boden unter meinen Füßen zu spüren, gab mir ein merkwürdiges, wohliges Gefühl und ich konnte endlich frei durchatmen. Hier unten konnte ich mich besser bewegen, war nicht so eingeschränkt. Allerdings blieb dies nicht unbemerkt.
„Calea, was machst du hier? Hier ist es zu gefährlich für dich", tadelte mich Fraud.
„Ich möchte mitkommen", erwiderte ich eisern und erhob mein Haupt, was den jungen Mann vor mir zurückweichen ließ. „Ich möchte mit euch kommen, dorthin, wo ihr Xylon einsperrt."
„Das ist noch viel gefährlicher", versuchte er mich umzustimmen.
„Warum?", erkundigte ich mich.
„Wir wissen nicht, ob er seine Männer hier in der Nähe stationiert hat und-."
„Das glaube ich nicht", unterbrach ich ihn. „Immerhin wäre er dann nicht allein gewesen, als deine Leute ihn aufgegabelt haben. Oder sie hätten ihn schon längst befreit. Keine Ahnung, wieso er überhaupt hier ist. Sein Schiff ist – soweit ich mich erinnern kann – in der Nacht nicht gesunken."
„Seltsam", stimmte er mir zu. „Trotzdem will ich dich nicht dabei haben."
„Ich komme aber mit!", entschied ich und sagte etwas, dass mir bereits in Gedanken leid tat. Es war nicht das, was ich fühlte oder das, was ich denken wollte. Doch es war das, was ihn eventuell überzeugen konnte. „Ich will sehen, wie ihr ihn einsperrt. So wie er mich einsperren wollte."
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Seabound
FantasyCalea Amante ist eine junge, starke Frau und stammt aus gutem Hause. Nicht nur das, sie ist eine Prinzessin, auch wenn ihr dieser Titel gar nicht zusagt. Was für die einen ein Segen ist, wird für sie sehr bald zum Fluch. Denn als ihr Widersacher aus...