Die Tür öffnet sich langsam und ich schrecke auf.
Es ist Ivette. Ich blicke wieder an die Decke, denn ich will nicht mit ihr reden. Ich will mit niemandem reden. Ich möchte bloß aus dem Zugfenster starren und in Selbstmitleid versinken, solange ich es noch kann, ohne dass mir Kameras auf Schritt und Tritt folgen.
Das Bett in meinem Abteil ist so weich, dass man beinahe komplett in ihm versinkt, und doch finde ich es unbequem. Mein hartes, altes Bett, was Zuhause in Distrikt 5 steht, wäre mir lieber.
Ich esse ein Stück Erdbeer-Minz-Kuchen, das mir vorhin ein Avox vorbeigracht hat, doch ich kann den Geschmack nicht vollends genießen. Ivette setzt sich ans Bettende und man hört eine Weile nur mein Kauen. Ivette ist wohl nicht so gesprächig. Das ist eine unserer wenigen Gemeinsamkeiten.
Irgendwann lege ich den Kuchen zur Seite und blicke ihr in die Augen. "Was ist?", will ich leise wissen. Ivette antwortet mal wieder nicht, sondern mustert mich nur.
"Du bist ein schlaues Mädchen. Und ein geschicktes Mädchen, denke ich", sagt sie und ihre Stimme klingt ungewöhnlich sicher. "Aber ich habe gesehen, wie du die anderen Tribute angesehen hast. Du hast das verspürt, wofür hier in den Hungerspielen kein Platz ist: Mitgefühl. Pass gut auf, Sky", ihre Stimme bricht beinahe, so zerbrechlich ist sie, "denn sonst wird dir deine Sanftmütigkeit noch zum Verhängnis werden."
Ivette erhebt sich. Ihr magerer Körper schwankt, doch schließlich schafft sie es den Raum zu verlassen. Ich nehme den Kuchen wieder in die Hand und konzentriere mich auf das Essen, während meine Gedanken wie unbändige Flüsse rasen, ohne jemals zu verstummen.
***
"Also, habt ihr vor, euch mit irgendjemandem zu verbünden?", fragt James am Abend, als es draußen bereits stockdunkel ist und wir uns zum Essen im großen Abteil zusammen gefunden haben. Auch Eileen ist da und sitzt am Tisch. Wie immer lächelnd.
Chris zögert, doch schlägt schließlich Thresh vor. James nickt nachdenklich. "Und du, Sky?", wendet er sich an mich. Ich sitze mit einem nachdenklichen Blick da und zucke zusammen, als er mich anspricht. Doch kurz darauf habe ich mich gefasst. "Ich habe nachgedacht und mich entschieden, dass ich mich nicht verbünden werde", antworte ich entschieden. Denn Ivette hat Recht. Ich werde an Mitleid zu Grunde gehen. Und um dem entgegenzuwirken, darf ich auf keinen Fall Bündnisse schließen. Denn Bündnisse führen zu Verbundenheit. Verbundenheit zu Freundschaft. Und Freundschaft zu Schmerz.
James Blick ist undefinierbar, als er in seine Tasche greift und mit zitternden Fingern eine Medikamentendose hervorholt. Ohne den Blickkontakt abzubrechen, steckt er sich eine Pille in den Mund und schluckt sie hinunter. Schmerztabletten. Wie viele er wohl davon nimmt, um all das zu vergessen, was er in der Arena erlebt hat. Kein Wunder, dass seine Pupillen immer beinahe seine gesamte Iris bedecken.
"Könnt ihr mit irgendwelchen Waffen umgehen?", fragt Ivette plötzlich und Chris beginnt zu stottern. "Ja, also...äh...ich kann ein wenig mit der Axt umgehen", meint er und Ivettes und James' Augen bohren sich in mich.
"Und du, Sky?", will James wissen. "Ich kann mit dem Messer umgehen und ich weiß, wie ich in der Wildnis überleben werde", erwidere ich kurz darauf. Ich möchte nicht zu viel verraten, denn Chris ist hier und er darf nicht viel über meine Fähigkeiten wissen. Ich vertraue niemandem.
Ich versinke in Grübeleien, die meisten handeln von Distrikt 5, von den Wäldern und Flüssen und Straßen und Menschen.
Ich weiß nicht wie lange wir noch brauchen, aber ich kann jede Zeit nutzen. Ich muss lernen. "Ivette", sage ich und sie dreht sich um. Ihr Gesicht ist knochig und sie wirkt müde.
Ich weiß, dass Sieger meistens nicht von ihrer schrecklichen Zeit in der Arena erzählen wollen, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Es geht um mein Leben. "Wie hast du deine Spiele gewonnen?", will ich wissen. Ivette blickt mich ausdruckslos an. Plötzlich lächelt sie. Zumindest sollte es ein Lächeln sein, aber es sieht eher aus wie eine gezwungene Grimasse.
"Ich sehe vielleicht nicht so aus. Aber früher, als ich die Spiele gewonnen habe, da war ich skrupellos und bereit, alles zu tun, um nach Hause zu kommen. Ich habe viele der Tribute vegiftet oder mit dem Messer erstochen. Ich war fest entschlossen zurück zu kehren", flüstert Ivette und ihr Lächeln verschwindet wieder.
"Wäre ich damals doch bloß gestorben. Alles wäre so viel einfacher..." Ich schlucke. Ob ich später, falls ich gewinne, auch so denken werde? Ob ich mir auch wünschen werde, in der Arena gestorben zu sein?
Ich schüttele den Kopf. Natürlich nicht! Ich habe schließlich noch meinen Vater. Ivette hat wahrscheinlich keine Familie mehr, deshalb ist sie unglücklich.
"Ich weiß noch, wie ich meinen ersten Mord begangen habe", murmelt sie, eher zu sich selber. "Ja, ich war so entschlossen. Ich wollte zu meinen Eltern und zu meinem kleinen Bruder" Ivettes Augen funkeln.
"Und nun sind sie fort."
Mein Herz wird schwer und ich spüre Tränen in mir hochkommen.
"Ich kenne mich schon sehr gut mit Pflanzen und Beeren aus", erkläre ich um das Thema zu wechseln. "Ich könnte ebenfalls Tribute vergiften, aber dafür muss ich noch mehr wissen." Ivette nickt kaum merklich. "Frehnblüte", sagt sie plötzlich und blickt mich auffordernd an. Ohne zu zögern schießt es aus mir raus. "Essbar, gut gegen Bauchkrämpfe"
Ivette scheint zufrieden zu sein. "Die Arena könnte jede erdenkliche Landschaft sein. Von der Wüste bis zum Schneegebiet. Also musst du wissen, egal wo, welche Pflanzen dort wachsen könnten und, ob sie essbar oder giftig sind."
Ich nicke wissbegierig. "Also in feuchten Gebieten, wie angenommen einem tropischen Regenwald, wachsen welche giftigen Pflanzen?", will Ivette wissen.
"Giftige Pflanzen, wie Merkrebeere oder Rilchkraut", antworte ich, diesmal aber zögernd.
"Und essbare Pflanzen?", fragt Ivette sofort.
"Grudenis und Sommerblatt""Nein, Sommerblatt ist nicht essbar!", fällt mir Ivette aufgebracht ins Wort und ich senke den Kopf.
Egal. Aus Fehlern lernt man.
"Sommerblatt, ist nicht sofort tödlich, aber es lässt, wenn man zu viel davon isst, Wasser in die Lunge laufen. Nach längerer Zeit, platzt sie auf und du bist tot." Ich schlucke und nicke heftig. So gehen Ivette und ich viele verschiedene Landschaften durch, diskutieren welche Beeren und Kräuter essbar und giftig sind und schreiben alles auf. Nach ein paar Stunden lehnt Ivette sich zurück.
Sie scheint nicht mehr so müde und ausdruckslos zu sein, ihre Augen schimmern ein wenig. "Gute Arbeit, Sky", lobt sie mich. "Jetzt können wir erstmal Pause machen. Hast du Hunger?" Ich schüttele den Kopf. Nein, ich hatte in meinem Leben schon so oft echten Hunger, dass sich die Hungerbauchschmerzen in ein leeres Gefühl im Magen verwandelt haben. Ich stehe auf, da es schon spät in der Nacht ist.
Doch Ivettes Gesichtsausdruck geht mir nicht aus dem Kopf.
Hoffnung.
Auf meinen Sieg.
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Fᴜᴄʜsɢᴇsɪᴄʜᴛ ✓
Fanfiction«Hast du Angst, Sky?» «Ja», erwidere ich ehrlich. «Ich habe Angst zu sterben. Aber ich habe auch Angst davor, meinen Vater alleine zu lassen. Und diese Angst ist größer.» _________________________ Sky Wiler ist eine der Tribute in den 74. Hungerspie...