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Riesige Wolken befinden sich direkt über mir und ich bin hoch oben, auf einem Berggipfel. Direkt neben mir steht meine Mutter. Sie ist viel zu dünn und ihre Wangenknochen sind extrem zu sehen. Ihr besorgter Blick in den Horizont verrät mir, dass dort etwas nicht stimmt.

Aber dort ist nichts.

"Was ist dort draußen? Hinter den Distrikten?", frage ich leise, als könnte uns jemand belauschen. Meine Mutter streicht sich ihre Haare zurück, die durch den Wind hier oben wild hin und her wehen, und schaut mich an.

"Das weiß ich nicht", sagt sie und sieht schon beinahe traurig aus.
"Das weiß ich nicht", widerholt sie mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme, der mich erschaudern lässt.

"Aber da muss doch etwas sein", flüstere ich. "Irgendwas"

Meine Mutter wendet den Blick von mir ab und starrt wieder in die Ferne.

"Sky" Eine Stimme erklingt hinter uns und während ich herumfahre, bleibt meine Mutter ruhig stehen.

Es ist Kalia und ich weiche einen Schritt zurück. Was macht sie hier? Sie ist tot! Das ist nicht möglich.

"Ich bin tot", sagt sie lächelnd und breitet ihre Arme für eine Umarmung aus. Doch ich bleibe stocksteif da. Meine Mutter legt mir ihre kühle Hand auf die Schulter. "Ich bin auch tot, Sky", flüstert sie ernst und ich starre in ihre beinahe grauen Augen.

Leere breitet sich in mir aus, denn ich will es nicht wahrhaben. Meine Mutter ist nicht tot. Nicht sie, verdammt!

Ich reiße mich von ihr los und ein frustrierter Schluchzer verlässt meine Kehle.

"Nein", sage ich mit zitternder Stimme. "Geht weg! Ihr seid tot! Tot, hört ihr das? Also geht weg, das ist sowieso nicht echt. Wieso lasst ihr mich nicht einfach in Frieden??"

Kalia blickt mich fragend an und auch meine Mutter runzelt die Stirn.

"Natürlich ist das nicht echt, Sky. Das ist nur ein Traum", sagt sie sanft und beruhigend, sodass mir die Tränen hochkommen. Seit wann bin ich so sensibel, wenn es um meine Mutter geht?

Kalia tritt näher und lächelt mich aufmunternd an. Wir starren in die Ferne, der Himmel ist rosa verfärbt und eine kühle Brise erfrischt die Luft. Langsam geht die Sonne auf, taucht die Welt in goldenes Licht und Wärme.

"Ich liebe Sonnenaufgänge", flüstert Kalia ganz leise neben mir, eher zu sich selber. Ich drehe mich zu ihr und betrachte sie von der Seite. "Ich weiß", erwidere ich leise. "Du liebst Sonnenaufgänge, weil sie für dich eine neue Chance
und eine neue Hoffnung versprechen" Während Kalia sich zu mir dreht und nickend lächelt, schießt mir Ians Bild durch den Kopf. Wie er mir das mit Kalia und den Sonnenaufgängen erzählt hat. Wie ich danach geflohen bin, wie die Jägerwespen die Karrieros angegriffen haben, wie ich auf Marvel gestoßen bin, wie...

Marvel. Augenblicklich wird mir bewusst, wo ich gerade bin. Nicht mein Traum-Ich, das neben Kalia und meiner Mutter einen Sonnenaufgang betrachtet. Nein, ich meine mein echtes Ich. Das Ich, das gerade irgendwo im Wald liegt, ohne Wasser, ohne Essen. Das Ich, das losgezogen ist, um Essen und Wasser für Marvel zu suchen...und gescheitert ist.

Ich drehe mich zu Kalia und meiner Mutter. Sie blicken mich beide lächelnd an. Ich lächele leicht zurück.

"Ich muss jetzt aufwachen", flüstere ich ihnen leise zu. "Ich muss ihn retten"

Fᴜᴄʜsɢᴇsɪᴄʜᴛ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt