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Ich stehe einfach nur da. Meine durchnässte Kleidung klebt an mir, während ich nach vorne blicke und auf den Sonnenaufgang warte. Vielleicht ist es mein letzter...
Als ich die ersten Strahlen entdecke, lächele ich. Die goldene Wärme lässt die Baumkronen orange glühen und gelbe Sonnenflecken tanzen verspielt auf dem Boden. Ich spüre, wie sich mein Herz erwärmt, als ich dieses wunderschöne Spektakel der Natur betrachte. Ich sehe Kalia vor mir, wie sie lacht. "Ich liebe Sonnenaufgänge. Sie bedeuten einen neuen Tag, eine neue Hoffnung. Eine neue Chance", flüstert sie mir ins Ohr.

Ich schließe die Augen, um die Wärme auf meiner blassen Haut zu spüren, um der Sonne näher zu kommen.

Ich höre friedliches Vogelgezwitscher und das sanfte Wispern des Windes erfüllt mich, während die Blätter der Bäume im Licht schimmern.

Es ist so friedlich. Noch gestern hätte ich mich darüber aufgeregt und gesagt, dass es zu friedlich wirkt. Ich hätte geschimpft, dass es hier gar nicht friedlich sein sollte, weil sich hier Kinder gegenseitig umbringen müssen.

Doch jetzt... habe ich mich verändert. Ich weiß nicht, ob die Erkenntnis an Catos Gespräch liegt oder, ob sie früher oder später sowieso gekommen wäre. Jetzt spüre ich Dankbarkeit in mir. Ich bin dankbar, noch diesen einen Sonnenaufgang betrachten zu dürfen. Ich habe die Wut hinter mir gelassen, den Hass habe ich aus meinem Kopf vertrieben. Das einzige, was ich jetzt noch will, ist...Hoffnung.

Nicht für mich, nein, für mich gab es sowieso nie Hoffnung. Ich will Hoffnung für die Menschen in Panem, in den armen Distrikten, sowie in den Reichen. Ich möchte Hoffnung für sie alle, Hoffnung auf ein Leben. Ich will, dass Menschen ohne Angst aufwachsen können, ohne von dem Kapitol ausgenutzt oder der Kinder beraubt zu werden. Ich möchte...ein neues Panem.

Auch wenn der Gedanke schmerzt, in diesem neuen Panem nicht selber leben zu können, bin ich bereit alles dafür zu geben. Alles.
Sogar mein Leben.

Es erschreckt mich, dass ich plötzlich so entschlossen bin und doch erfüllt es mich mit Stolz.

Nachdem die Sonne strahlend am blauen Himmel steht, der so rein und sauber wirkt, als hätte ihn der gestrige Regen gewaschen.

Lächelnd nehme ich den Apfel aus meinem Rucksack, um ihn zu essen, während ich durch den angenehm kühlen und nach Regen riechenden Wald gehe. Meine rechte Hand schmerzt nicht mehr so schlimm, doch mein Hals ist angeschwollen von Catos festem Griff.

Die Stille bringt mich zum Nachdenken, zum Träumen, sodass ich mich am liebsten hinsetzen und tagträumen würde. Doch dafür ist keine Zeit. Ich habe schließlich eine Aufgabe.

Entschlossen stapfe ich über den noch feuchten Erdboden, der jeden meiner Schritte schmatzen lässt. Das Geräusch ist witzig und ich fühle mich wie ein kleines Kind, das lachend durch den Matsch rennt.

Ich laufe unbeschwert weiter, eine Euphorie packt mich, während mich die Kraft nie zu verlassen scheint. Ich habe das Gefühl, ich bin unsterblich, unbesiegbar...und doch werde ich sterben.

Doch dieser Gedanke macht mir keine Angst mehr. Es ist fast so, als hätte sich dieser unbehagliche Knoten in meinem Bauch gelöst, der mir immerzu Bauchschmerzen bereitet hat, wenn ich daran gedacht habe zu sterben. Jetzt erfüllt mich Erleichterung, dass ich dem Tod so tapfer entgegen blicken kann.

Meine linke Hand ist zu einer Faust geballt, während die Rechte schlaff hinunterhängt.

Ich halte einen Moment inne, um die Augen zu schließen, meine Schultern sind entspannt. Ich fühle die schwüle Luft und den Duft nach Regen, die warme Brise umweht meine Ohren.

Ich fühle mich lebendig.

Ich lache auf, wenn ich wieder an die Ironie meines Lebens denke. Wie kann es sein, dass ich mich die ganze Zeit wie tot gefühlt habe, aber mich jetzt, wo ich mich entschieden habe zu sterben, lebendiger denn je fühle? Wie kann es sein, dass ich das Leben erst jetzt, kurz vor dem Tod, auskosten und wertschätzen kann?

Fᴜᴄʜsɢᴇsɪᴄʜᴛ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt