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Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Busch sitzen bleibe und auf den Boden starre. Es fühlt sich an, als wären es Stunden, aber wahrscheinlich handelt es sich nur um Minuten. Dieser traurige, verzweifelte Blick in Ians Augen, er hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und ich weiß, dass ich ihn niemals vergessen werde.

Plötzlich höre ich Schritte näher kommen. Aber ich bleibe still im Busch sitzen und blicke starr auf einen Fleck.
Ich schaue auf und stelle überrascht fest, dass es Katniss Everdeen, das Mädchen, das in Flammen steht, ist. Sie wankt und ihr Ohr blutet. Sie scheint nicht auf ihre Umgebung zu achten, denn ihr Blick ist geschockt und verwirrt. Aber auf ihren Lippen ist ein zufriedenes Lächeln. Ich kneife die Augen zusammen.

Katniss trägt eine goldene Brosche an ihrem T-Shirt und sofort verstehe ich es. Die Brosche ist das Goldene am Waldrand gewesen! Katniss, sie war die Person, die am Waldrand gelegen ist.
Aber wie hat sie so eine Explosion überlebt? Wenn man unmittelbar auf einer explodierenden Mine steht, wird man zerissen, wie konnte sie das überleben, geschweige denn danach noch gehen?

Und sie muss beobachtet haben, wie ich um die Minen herum gesprungen bin, wieso war sie dann trotzdem so dumm zum Vorratshaufen zu gehen?

Aber dann entdecke ich den Bogen in ihrer zitternden Hand und zähle eins und eins zusammen. Sie WOLLTE, dass die Vorräte explodieren. Sie wollte den  Karrieros die einzige Nahrungsquelle nehmen. Und das hat sie so angestellt, in dem sie mit dem Bogen die Minen abgeschossen hat... genial.

Auch wenn ich Katniss am liebsten gratulieren würde, bleibe ich stumm in meinem Versteck sitzen bis sie etwas weiter weg ist. Dann schlüpfe ich aus dem Busch und husche zurück zu meinem Teich. Dann packe ich mein Messer, das Essen und die Trinkflasche in den Rucksack und lehne mich zufrieden an den Busch.

Ab und zu trinke ich etwas Wasser aus dem Teich. Die Sonne geht unter und im Wald wird es langsam dunkel und kalt. Zähneklappernd rolle ich mich zusammen und lege den Rucksack auf mich, um mich zumindest ein wenig zu wärmen. Trotz der beißenden Kälte, versinke ich bald in einen tiefen Schlaf.

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Als ich erwache steht die Sonne schon hoch oben am Himmel und lässt die grünen Blätter golden leuchten. Es ist eine friedliche Atmosphäre, die mich wütend macht.

Hier ist es nicht friedlich! Hier sterben Menschen, hier bringen sich Kinder gegenseitig um!

Ich schlucke die Tränen herunter, die sich in mir ansammeln, als ich an meinen Vater denke. An meinen lieben, sanften Vater, ... den ich getötet habe.

Ich räuspere mich und versuche stark zu wirken. Will ich überhaupt noch gewinnen? Jetzt, wo ich niemanden mehr habe, der auf mich wartet?

Ich verschiebe diese Gedanken auf später und esse ein bisschen Fleisch, das ich mit Wasser runterspüle.
Meine Haare sind dreckig und blutverklebt, weshalb ich sie ein wenig abwasche. Anschließend erhebe ich mich und marschiere weiter weg von der Lichtung. Hier habe ich zwar einen Teich, doch es ist gefährlich, da die Karrieros immer noch wütend und besessen sind, den Täter zu finden.

Und einem wütenden Karriero möchte ich nicht so gerne begegnen...

Ich pflücke unterwegs ein paar Kräuter und Beeren, die ich sorgfältig in meiner Essensbox verstaue. Essen habe ich vorerst genug, aber an Wasser muss ich sparen, weil ich nur eine Flasche habe.

Stundenlang stapfe ich durch den Wald, stets bin ich auf der Hut.
Ich weiß selber nicht, wieso ich das alles überhaupt noch mache...ich könnte einfach sterben. Das wäre viel einfacher.

Mein Stolz ist das, was mich wahrscheinlich noch am Leben hält. Denn ich möchte es wenigstens versucht haben und nicht kampflos aufgeben.

Ich atme tief durch und gehe weiter.

Ich schaffe das! Ich muss das schaffen!

Aber was bringt es mir zu gewinnen? Mein Vater ist tot!

Plötzlich höre ich ein Pfeifen. Es klingt wie das eines Vogels. Und kurz darauf singt der ganze Wald. Die Spotttölpel singen die Töne nach und ich halte inne. Mit geschlossenen Augen lausche ich den sanften Tönen, diesem melancholischen Gesang. Er dringt in mich ein, sorgt dafür, dass meine ordentlich verstauten Gefühle nach außen dringen. Eine Träne sickert an meiner Wange hinab. Ich weiß nicht, wieso ich schon wieder weine, wahrscheinlich weil mich der Gesang so berührt.

Die Stimme, die als erstes gepfiffen hat, ertönt nocheinmal, diesmal näher an mir. Ich zucke zusammen und reiße die Augen auf. Ist es...?

Bevor ich den Gedanken fertig gedacht habe, spüre ich einen Aufprall an meiner Schulter. Ich schreie auf und ehe ich mich versehe, liege ich am Boden.

Überrascht blicke ich in Marvels Augen.

"Was zum..."
"Sky?", fragt er und blickt mich ebenfalls überrascht an.

Sofort springe ich auf und weiche ein paar Schritte zurück.

Wird er mich töten?

Ich lasse mir meine Unsicherheit nicht anmerken und schaue ihn bloß misstrauisch an.

"Was willst du?", frage schließlich, nachdem wir uns ein paar Sekunden einfach nur angestarrt haben.

"Ich wusste nicht, dass du es bist. Ich war eigentlich auf der Suche nach jemand anderem..."

Er legt den Kopf schief und mustert mich prüfend.

"Hast du die Vorräte in die Luft gesprengt?", will er wissen und ich schüttele wahrheitsgemäß den Kopf.

"Hast du gerade diese Melodie gepfiffen?", frage ich anschließend.
Marvel runzelt die Stirn, was ich als "nein" ansehe. Das heißt, hier in der Nähe ist noch jemand. Denn ich bin mir sicher, dass es ein Mensch war, der gepfiffen hat.

"Sky", sagt Marvel leise und macht einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche wieder zurück. Es ist schwer, denn ich würde ihm am liebsten in die Arme springen, doch ich bin stark. Ich habe schon so viel durchgestanden, also werde ich es auch schaffen mich von ihm fernzuhalten. Denn diese Liebe wird nicht gut enden.

"Hör auf, Marvel. Lass mich", erwidere ich ruhig und blicke ihm in die Augen.

Ich sehe den Schmerz in seinen blauen Augen glitzern, ich sehe, wie sehr es ihn verletzt, aber es ist mir egal. Zumindest versuche ich mir einzureden, dass es mir egal ist.

"Bitte" Marvel geht nocheinmal auf mich zu, diesmal versucht er nicht einmal seinen Schmerz auch nur ansatzweise zu verstecken. Aber ich bleibe hart. Denn ich bin stark. Ich kann das.

"Ich habe gesagt, du sollst mich lassen!", fauche ich. In mir dreht sich alles um und ich hasse mich selber für diese Worte. Ich würde ihn am liebsten küssen und ihm sagen, dass ich das alles nicht ernst meine.

Aber ich weiß, dass das, was ich tue das einzig richtige ist. Es MUSS so sein. Nicht anders.

Marvels Augen füllen sich mit Tränen, aber nicht genug, dass sie hinausfliessen könnten. Er scheint es langsam zu verstehen, denn plötzlich wird sein Blick hart. Jegliche Emotion ist wie weggewischt.

"In Ordnung", sagt er kalt und dreht sich um. Die Stimme  pfeift nocheinmal die Melodie, sodass die Spotttölpel sie erneut nachsingen. Doch ich nehme sie nicht richtig wahr. Alles, woran ich denken kann, ist der Blick in Marvels Augen, dieser kalte Blick ohne jegliche Liebe. Als wäre er nie in mich verliebt gewesen. Als Marvel hinter den Bäumen verschwindet, verschwimmt meine Sicht hinter einem Schleier von Tränen. Denn plötzlich realisiere ich, dass ich die letzte Person, die ich noch liebe, verloren habe.

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Hallo :)
Hier ist  ein neues Kapitel . Ich hoffe es gefällt euch :) Ich freue mich über Votes, Feedback und Kommentare.

Melody <3

Fᴜᴄʜsɢᴇsɪᴄʜᴛ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt