Kapitel 9

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Clara Archer

>Clara?< Überrascht bleibe ich mitten auf dem Gang stehen, sehe mich um. Eigentlich wollte ich grade nach Hause gehen und in der Regel werde ich auch nicht aufgehalten, aber heute ist es anders. Heute war einiges anders als sonst.
Angefangen bei meinem Erwachen ohne müde zu sein, über das diskussionslose überlassen von einem T-Shirt seitens meines Bruders, bis hin zu Randon, der seine Kurzarbeit in Mathe verhauen hat. Zumindest habe ich ihn nicht mehr als eine Minute schreiben sehen. Normalerweise macht er auch im Unterricht immer mit, aber das Thema scheint ihm nicht sehr zu liegen.

>Ja?<, frage ich, dann findet mein suchender Blick meinen Mathelehrer, Herr Tibet. Er lächelt mich an, bleibt vor mir stehen.

Was will er denn von mir? Habe ich meinen Kurztest auch in den Sand gesetzt?

>Du hast wie üblich die volle Punktzahl, keine Sorge<, fängt er gleich an, was mich erleichtert die Schultern sinken lässt.

Warum hat er ihn schon korrigiert? Hat er in den Pausen nichts Besseres zu tun?

>Die übrigen Schüler sollten sich ein Beispiel an dir nehmen. Kannst du dir vorstellen Nachhilfe zu geben?<

>Wem?<, frage ich gleich nach, denn davon hängt meine Antwort ab. Ich will keiner ganzen Gruppe Nachhilfe geben und auch nicht solchen Leuten wie Anastasia, unserer Miss Perfect.

>Randon aus deinem Kurs hat mich um Nachhilfe gebeten, aber ich habe leider keine Zeit dafür. Würdest du das übernehmen?<

Nein! Ja! Nein!

Meine Gedanken überschlagen sich, plötzlich gerät alles aus dem Ruder. Natürlich auch wieder mein Herzschlag. Das ist mit ziemlicher Sicherheit sehr ungesund.

Randon braucht Hilfe in Mathe? Seit wann?

Ich habe zwar mitbekommen, dass er heute mit dem Test überfordert war, aber ich dachte nicht, dass er so weit gehen und den Lehrer um Nachhilfe bitten würde. Offenbar liegt ihm das Thema nicht. Genau wie fast allen aus dem Kurs. Wahrscheinlich bin ich die Einzige, die alles verstanden hat und es ihm beibringen könnte.

Was maßt du dir denn da an?

>Clara?<, erinnert mich die Stimme meines Lehrers, dass ich noch eine Antwort zu geben habe.

>Klar<, sage ich, bevor ich mich daran hindern kann. Auch korrigieren kann ich mich nicht, denn er lächelt schon erleichtert und fängt an zu reden.

>Das ist super, danke dir. Ich werde das in deinem Zeugnis vermerken und Randon sagen, dass ich jemanden für ihn gefunden habe. Ich bin mir sicher, dass ihr beide das gut hinbekommen werdet. Am Freitag nach der Schule ist die Bibliothek immer noch bis siebzehn Uhr offen. Da könnt ihr euch treffen<, erklärt er drauf los, als hätte er schon alles geplant. >Komm gut nach Hause<, verabschiedet er sich und geht. Schweigend sehe ich ihm nach, versuche das alles zu verstehen.

Ich werde mit Randon lernen, mit ihm allein sein und reden. Über eine längere Zeit und ohne jegliche Ablenkung.

Nervös sehe ich mich um, richte meine Brille und lasse meine Haare in mein Gesicht fallen. So als wäre es nötig, um nicht aufzufallen und mich zu verbergen.

Niemand sieht dir an, dass du grade durch drehst!

Mir rauscht das Blut in den Ohren. Hoch konzentriert zähle ich die Schließfächer im Gang, setzte einen Fuß vor den anderen, versuche meinen Puls zu beruhigen.

Ich muss heute unbedingt noch zu Apotheke und mir ein Beruhigungsmittel besorgen.

Immer weiter folge ich dem Flur, nehme kaum wahr, dass noch andere Leute hier sind. Es ist, als wäre ich allein in einer Welt aus Watte.

UnscheinbarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt