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Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden. Das sind eintausendvierhundertvierzig Minuten und sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden. Und jede Sekunde wird ein Mensch geboren. Aber auch alle drei Sekunden stirbt ein Mensch. Auf den unbequemen Stühlen hocke ich nun knapp vier Stunden. Das sind vierzehntausendvierhundert Sekunden. Wenn nun alle drei Sekunden ein Mensch stirbt, dann hat er es im Prinzip schon viertausendachthundert Mal geschafft nicht zu sterben. Ich seufze. Dass wir einmal hier sitzen würden und es nun wirklich ernst ist, damit hätte doch wirklich keiner gerechnet. Jetzt mal ehrlich, niemand von uns hätte das jemals gedacht. Die ganze Zeit überlege ich schon, wie ich am besten mit den Kindern reden soll. Wie soll ich anfangen? Und wohin bringt mich dieser Anfang? Was werden die richtigen Worte sein? Oder beginne ich direkt mit den falschen? Ich schließe meine Augen. Nur einen Moment. Einen kurzen Augenblick. Für vielleicht zehn Sekunden möchte ich in meine Welt. Mein Rückzugsort, mein Mauseloch, mein sicherer Hafen. Bloß nur für eine kurze Zeit aus dieser Welt weg. Raus aus dem Druck, dem Stress und überhaupt der ganzen Situation. Am liebsten und besten auf eine kleine einsame Insel irgendwo im großen weiten Meer. Ohne alles, nur ich ganz allein und ich komme erst wieder zurück, wenn das hier alles vorbei ist. Wenn alles gut überstanden und vorbei ist. Wenn ich mir sicher sein kann, dass es endlich gut ausgegangen ist und wir wieder in das eigentliche Leben zurückkehren können. Bevor das hier so dumm gelaufen ist. Bevor das hier alles so furchtbar wurde. 

„Wann kommt Papa denn wieder?", fragt plötzlich jemand. Ich zucke zusammen. Jetzt musst du etwas sagen! Los, Chris. Reiß dich zusammen und haus raus, was du den Kindern sagen willst. „Mein Schatz, das dauert noch.", höre ich eine zweite Stimme, die ich nicht zuordnen kann. Ich kenne sie nicht. Ich sehe auf und entdecke einen kleinen Jungen, der es sich neben mir mit seiner Mutter bequem gemacht hat. „Ist Papi denn schlimm verletzt?", fragt der kleine Junge und sieht mit großen, glasigen Augen zu seiner Mutter auf. „Nein, mein Kleiner. Papa ist gleich wieder fit." Ich beiße mir auf die Lippe. Super, jetzt halte ich schon Fremde für Verwandte. Ich bin völlig fertig. Wie soll das bloß weitergehen? „Herr Reinelt?" Ich zucke zusammen. Oh mein Gott! Ich bin noch nicht soweit. Ich will mich noch nicht verabschieden! Ich will nicht. Ich liebe ihn doch! Er ist mein Bruder, es ist nicht vorbei! Wir wollten noch so vieles erleben. „Herr Reinelt?" Ich sehe vorsichtig auf. Nein, ich bin nicht bereit. Ich kann das nicht. Aber ich stehe trotzdem auf. Es ist pures Glück, dass mich meine Beine halten. Glück, hoffentlich hat Andreas auch so viel Glück. Hoffentlich ist alles gut. „Ich...", stammle ich leise, „Ich bin Herr Reinelt." Meine Stimme klingt überhaupt nicht nach mir und jedes Wort ist wie ein Messerstich direkt in mein Herz. Immer und immer wieder. Warum kann denn keiner etwas dagegen unternehmen? Nehmt das endlich weg von mir! Ich hole tief Luft und schaue meinem Gegenüber in die Augen. „Das weiß ich durchaus, Herr Reinelt. Mein Name ist Dr. Menges. Ich wollte Sie nur aufmerksam auf mich machen. Geht es Ihnen gut?", werde ich gefragt. Ich verziehe das Gesicht und denke angestrengt nach. Geht es mir gut? Die Frage ist einfach, aber trotzdem fällt es mir so unendlich schwer eine passende Antwort zu finden. „Ähm, ich denke... Ich schätze mal, also nicht wirklich...", murmle ich leise. So viele Fragen sind in meinem Kopf, wie soll ich da noch ordentlich denken? „Kann ich Ihnen etwas Gutes tun? Möchten Sie vielleicht etwas trinken?" Ich überlege erneut. Ich strenge mich richtig an. Etwas trinken? Das könnte helfen. Aber man muss doch Andreas helfen? Nicht mir! „Wie geht es meinem Bruder?", bringe ich nur knapp heraus. Ich vernehme ein Seufzen. „Nun, Herr Reinelt, Ihr Bruder liegt auf der Intensivstation. Wir wissen noch nicht genau, wie sein Zustand ist. Zurzeit wird er noch untersucht und dann werden wir weitersehen. Er ist stabil, aber trotzdem können wir noch nicht zu Hundertprozent mit einer Therapie gegen das Fieber und die entzündete Wunde beginnen, da uns noch einige Informationen und Tests fehlen. Wir tun aber alles, um Ihrem Bruder zu helfen und er ist bei uns in den besten Händen. Bitte haben Sie Vertrauen zu uns.", erklärt mir Dr. Menges. Ich habe Angst. Große Angst um meinen Bruder. Warum kann mir denn keiner diese Angst nehmen? Warum muss ich hier allein damit kämpfen? „Wir bräuchten noch ein paar Informationen über die Krankengeschichte Ihres Bruders. Fühlen Sie sich in der Lage einige Unterlagen auszufüllen?", erkundigt sich Dr. Menges.

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt