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„Ich weiß noch genau, was er zu mir gesagt hat, als wir uns das erste Mal sahen.", flüstert Lene. Ich schlucke. „Wir haben uns beim Karneval in Bünde kennengelernt. Da hat er mich das erste Mal gesehen. Und ich ihn." In ihrer Stimme klingt Wehmut. Ich beiße mir auf die Lippe. „Ich habe ihn angesprochen und gefragt, was er eigentlich so macht. Und er sagte, dass er Zauberer wäre. Oh Mann, ich habe ihm das nicht geglaubt. Weil ich dachte, dass er mich anlügt, habe ich geantwortet, dass ich schwanger wäre. Das Kostüm hat dazu ja gepasst." Sie lacht. Und ich stehe neben ihr. „Weißt du, dass er mich den ganzen Abend vom Rauchen abhalten wollte? Er hat erst später gemerkt, dass das bloß mein Kostüm war.", flüstert Lene. Ich lächle schwach. Aber natürlich weiß ich das. Jeden Jahrestag hat er mir diese Geschichte erzählt. Jedes Jahr kann ich hören, wie glücklich und stolz er ist. Lene beugt sich zu Andreas. „Und als ich dann mit Liam Jahre später schwanger wurde, da haben wir uns genau da getroffen, wo wir uns das erste Mal sahen. Ich habe ihn, wie damals, gefragt was er eigentlich so macht. Seine Antwort war, dass er Zauberer ist. Und ich sagte ihm, dass ich schwanger bin...", haucht Lene. Ich senke den Blick. Du stehst das auch durch! Nicht aufgeben, Chris! Du schaffst das auch! Lene vergräbt ihren Kopf am Bett und beginnt bitterlich zu weinen. Ich schlucke. Verdammt, was machen wir hier eigentlich? Da geht auch schon die Tür auf und die Schwester tritt ein. „Hallo, es ist soweit. Ich muss Sie nun bitten das Zimmer zu verlassen.", sagt sie und lächelt uns freundlich an. Ich sehe zwischen Lene und ihr hin und her. Ich glaube, das wird schwierig. „Lene...", spreche ich die Frau meines Bruders leise an. Doch Lene ignoriert mich. Oder sie hört mich nicht. Aber das kann es nicht sein, ich bin ganz nah bei ihr. Ich fasse sie an den Oberarmen und ziehe sie vorsichtig hoch. Sie wehrt sich nicht dagegen. „Wir müssen gehen...", erkläre ich ihr und sie sieht mich mit verweinten Augen an. Wollen wir wirklich jetzt gehen? So ganz bin ich da auch nicht mit einverstanden. Aber was wollen wir machen?

Da gibt es nichts, wie schon gesagt. Ich stütze Lene, die sich nur die Hand vor das Gesicht hält. „Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen trotzdem noch.", sagt die Krankenschwester. Ich bedanke mich und verlasse dann mit Lene das Zimmer. Langsam, aber wir nähern uns der Tür. Alles in mir schreit danach bleiben zu wollen. Ales in mir tobt und wütet. Alles in mir schreit und brüllt. Das ist alles in mir, doch nach draußen lasse ich nichts. Ich stütze Lene einfach, die sich in der Tür noch einmal umdreht. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn er uns jetzt zum Abschied gewunken hätte. Komm schon, Bruder. Hebe einfach die Hand und winke und nach. Du kannst uns doch nicht einfach so davon ziehen lassen. Das kannst du doch nicht machen! Bruder, ich bitte dich. Ich flehe dich regelrecht an. Aber nichts passiert. Lene und ich verlassen das Zimmer. Ja, wir gehen tatsächlich. Wir lassen ihn zurück. Wir lassen ihn im Stich. Wir wollen das doch gar nicht! Also, drehen wir uns um? Laufen zurück? Nein, meine Schritte führen und immer weiter weg. Die schwere Eingangstür der Intensivstation haben wir schon erreicht und sie öffnet sich. Lene geht vor und als auch ich durch die Tür treten will, höre ich hinter mir die Stimme der kleineren Krankenschwester. „Reanimation! Beeilung. Jemand muss Dr. Menges anpiepen!"

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Bis zum Wagen ist es nicht mehr weit. Den Bereich der Intensivstation haben wir nun erfolgreich hinter uns gelassen. Wir sind auch schon aus diesem großen Gebäudekomplex an die frische Luft getreten und sind dann direkt Richtung Parkplatz gelaufen. Apropos laufen, Tränen laufen auch schon seit dem verlassen über meine Wangen. Aber was ich gehört habe, habe ich aber auch für mich behalten. Ich konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten. Ich konnte es einfach nicht mehr. Es ist, als hätte ich endlich ein Ventil gefunden, dass langsam alles zulässt. Zusammen mit Lene gehe ich zum Auto. Wir steigen ein. Ich starte den Motor. Und wir fahren davon. Keiner sagt etwas. Es ist ganz still im Auto Bis auf das leise Brummen des Motors und den Liedern im Radio. Das dudelt leise vor sich hin. Aber ich beachte es kaum. Ich konzentriere mich viel mehr drauf, was ich durch meinen Tränenschleier noch sehen kann. So oft versuche ich schon sie wegzublinzeln. Aber sie kommen immer wieder zurück. Sie wollen nicht weg. So wie ich. Ich will auch nicht weg. Ich will bei Andreas bleiben. Ich kann ihn doch nicht einfach zurücklassen! Was bin ich denn für ein Bruder?

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt