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Ich stehe noch eine Weile an der gleichen Stelle. Ohne mich wirklich zu bewegen. Ohne wirklich wieder loszulaufen. Klar, ein paar Schritte mache ich schon. Allerdings ist es dann doch mehr so ein auf der Stelle herumtänzeln. Es ist unglaublich schwer, sich selbst Schuldgefühle auszureden. Klar, wenn man eigentlich weiß, dass man nicht schuld ist sollte es ganz einfach sein. Aber dieser Mist ist einfach anhänglich. Er klammert sich fest und frisst dich auf. Du kannst soviel dagegen anreden, wie du willst. Bis dir der Mund wehtut, bis es dir wieder zu den Ohren rauskommt. Kannst du alles versuchen, aber die Schuldgefühle bleiben. Versuche es erst gar nicht mit dem alten Trick sich ständig zu sagen: „Ist nicht meine Schuld. Das ist nicht meine Schuld." Auch das wird nicht funktionieren. Und warum? Weil die Schuldgefühle schon längst in deinem Kopf waren und nach diesem Satz, der dir eigentlich helfen soll, noch einen anderen hinzufügen. Nämlich den „Ist es doch, ist es doch. Du weißt das, du weißt das."-Satz. Und schon hängt wieder alles fest an dir. Du wirst es einfach nicht los, egal wie sehr du dich schüttelst oder wie oft du unter die Dusche steigst. Also, ich sollte es eigentlich besser wissen. Nun, ich werde es meinem Kopf vorschlagen. Mal schauen, was er davon hält.

Ich lache. Schon verrückt, wie sich das alles entwickelt hat. Ich schüttle den Kopf. Dann schaue ich auf meine Uhr. Oh, wie schnell die Zeit vergeht! Wir haben ja schon halb Elf. Ich sollte mich lieber mal auf den Rückweg machen, sonst werde ich noch als vermisst gemeldet. Also tue ich das. Langsam beginne ich wieder zu joggen, den gleichen Weg wie vorhin. Diesmal gibt es kein Rennen zurück. Nein, diesmal laufe ich auch allein. Diesmal gibt es nichts. Nur mich und den gleichen Weg zurück, den ich auch schon her gelaufen bin. In einem ruhigen gleichmäßigen tempo. Nein, diesmal gibt es kein Rennen. Nein, diesmal habe ich auch nichts im Auge und ich muss mich auch nicht nach meinem Bruder umschauen. Diesmal bin nur ich da, der langsam und vorsichtig seine Runde läuft. Erst jetzt fällt mir auf, wie weit ich eigentlich gelaufen bin. Von Andreas' Zuhause aus fast bis zu mir. Denn wir sind an diesem Tag von mir aus gestartet. Er kam bei mir vorbei, er hat mich aus dem Bett geklingelt. Er kam zu mir. Und ich bin gerade auch bis zu mir gelaufen. Auf meinem Handy kann ich den Weg nachverfolgen. Es sind krasse vier Kilometer, die ich gelaufen bin. Und das in einer Zeit von einer Stunde und ein paar Minuten. Was sagt man dazu? Weiter so, sagt man. Denn schließlich muss ich jetzt auch wieder zurück zu Andreas' Haus. Also, dann werde ich wohl um halb zwölf da sein. Auch in Ordnung. Sport für heute und morgen ist dann allerdings abgeharkt.

Ich laufe ganz locker zurück, als mir ein Gedanke kommt. Hätte ich meine Wohnungsschlüssel mitgenommen, dann hätte ich mir sicherlich gerade meine neuen Sachen holen können. Ich meine, wenn ich schon mal in der Nähe bin. Aber natürlich habe ich meine Schlüssel jetzt vergessen. Tja, dann muss ich heute Abend nochmal vorbeifahren. Hoffentlich passt das in meinen Zeitplan. Aber nun bin ich erstmal auf dem Weg zu Lene und Mama. Bestimmt ist Lene schon wieder zurück. Sie wollte ja nur kurz arbeiten. Oh verdammt, ich habe Mama jetzt die ganze Zeit mit Annika allein gelassen. Nun fühle ich mich wieder so schuldig. Also, es ist doch meine Schuld! Und wenn nicht, die Sache mit Andreas meine Schuld ist, dann ist das hier definitiv meine Schuld.

Aber schließlich habe ich es geschafft. Die Einfahrt jogge ich noch ganz easy hoch und komme dann erst kurz vor der Haustür schnaufend zum stehen. Ich klingle und warte dann geduldig. Ich habe ja nicht viel zum joggen mitgenommen. Also auch keinen Schlüssel. Doch da geht schon die Tür auf. „Ja, er ist wieder da.", ruft Lene gerade, als sie die Tür öffnet. Sie lächelt mich freundlich an. „Wir dachten schon, du hast dich verlaufen und kommst gar nicht mehr zurück.", meint sie und zieht mich in eine liebevolle Umarmung. Ich muss lachen. Tja, das hatte ich mir ja schon fast gedacht. „Schön, dass ich vermisst werde.", gebe ich zur Antwort und Lene verpasst mir einen leichten Klaps auf meinen Hinterkopf. „Autsch!" Aber dann schließe ich die Tür hinter mir und folge Lene ins Wohnzimmer. „Hallo Onkel Chris!", begrüßt Annika mich. Sie knabbert scheinbar zufrieden an einem Keks. „Na, meine kleine? Wie geht es dir denn?", frage ich sie und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie ist immer noch warm. „Gut!", strahlt sie und ich nicke. Das sind doch tolle Neuigkeiten. „Das freut mich." Ich streichle ihr vorsichtig über den Kopf und gehe dann zu Mama in die Küche. „Da bin ich wieder.", sage ich und Mama nickt. „Das kann ich sehen. Allerdings ist das Frühstück nun vorbei. Annika und Lene haben die Reste vor wenigen Minuten verputzt.", erklärt sie mir. Ich lächle und nicke. „Schon in Ordnung. Ich habe mir unterwegs ein Brötchen geholt. Das war gut.", schwindle ich. Aber Mama scheint mir das zu glauben. „Dann hast du jetzt keinen Hunger mehr? Auch okay. Ich koche sowieso erst heute Abend wieder." Mama lehnt sich gegen die Arbeitsplatte. Ich bestätige das mit einer leichten Kopfbewegung. Ich überlege. „Ich muss mal kurz etwas besprechen.", kündige ich an und gehe zu Lene ins Wohnzimmer. Mit einem kurzen Blick erkläre ich ihr, dass ich mit ihr sprechen möchte und wir gehen nach oben ins Schlafzimmer.

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt