Also wandern wir wieder zurück ins Haus. Dort angekommen gehen die Jungs mit Annika wieder spielen und Lene folgt mir in die Küche. Da steht Mama am Tisch. Sie klammert sich mit ihren Händen an die Lehne des Stuhls. Ich schaue kurz zu Lene und dann wieder zu Mama. Sie steht mit den Rücken zu uns und kann uns deshalb nicht sehen. Ich wage mich leise näher zu ihr. Je näher ich komme, desto lauter kann ich sie schluchzen hören. Sie wischt ihre Tränen nicht weg, sondern hält den Stuhl fest. Erst jetzt wird mir klar, welchen Stuhl sie festhält. Es ist seiner. Es ist Andreas' Stuhl. Dort sitzt er jeden Morgen und trinkt seinen Kaffee. Ich trete ganz nah an Mama heran und lege meine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt deutlich zusammen und verkrampft. Ich seufze kaum merklich. Oh Mama, es tut mir so unendlich leid. Verstehst du, was ich dir sagen möchte? Es tut mir so unendlich leid, Mama. „Mama...", flüstere ich und ich ziehe sie in eine Umarmung. Sie wehrt sich nicht, aber sie erwidert es auch nicht. Ich schlucke. Es tut mir so unendlich leid, Mama. Verstehst du? Es tut mir so unendlich leid. „Es tut mir leid...", hauche ich und schließe meine Augen. Sie brennen schon wieder. Und ich kann nichts dagegen machen. Ich halte den Atem an, während ich Mama ganz fest an mich drücke. So lange es geht. Und es geht lange. Doch schließlich atme ich gepresst aus und lockere meinen Griff. Ich greife Mama an die Schultern und drehe sie so, dass sie mich anschauen kann. „Du bleibst auch hier. Wir schlafen heute alle hier. Lene und die Kinder im großen Bett. Du schläfst dann einfach bei Liam im Bett. Das ist noch das bequemste.", sage ich und schaue Mama direkt in die Augen. Sie sind gerötet und sprechen Bände. „Chris, ich...", beginnt sie. Doch ich lasse sie nicht ausreden. „Nein, Mama. Das ist jetzt so. Morgen schauen wir weiter.", sage ich bestimmend. Sie seufzt. „Wie konnte es nur soweit kommen?", fragt sie und reibt sich die Stirn. Ich zucke mit den Schultern. Das kann ich mir auch nicht erklären. In den letzten Tagen war alles normal. Ich habe nichts bemerkt. Mama neigt den Kopf und setzt sich dann auf einen der freien Stühle. Jedoch nicht auf seinen Stuhl. Lene und ich setzen uns zu ihr.
„Ich wurde angerufen. Ich weiß nicht, warum ich zuerst angerufen wurde. Mama kam ja erst später.", erkläre ich plötzlich und mein Herz zieht sich zusammen. „Ich bin sofort gekommen. Aber da war der Notarzt schon da. Mir wollte keiner etwas Genaues sagen. Dann kam Mama und ich habe sie gebeten bei den Kindern zu bleiben. Damit ich mit Andreas ins Krankenhaus fahren kann.", sage ich. Mama nickt. Ja, daran kann ich mich außerordentlich gut dran erinnern. Ich schließe meine Augen. Was ist das bloß für eine verdammte Scheiße? Jetzt wirklich. Ohne Spaß und ohne alles. Das kann es doch nicht sein! Ich meine, wo waren wir noch vor wenigen Wochen, Tagen? Da standen wir beide auf der großen Bühne in Düsseldorf und alles war in Ordnung. Jetzt liegt unser ganzes Leben in Scherben vor uns auf den Boden und wenn wir nach ihnen greifen wollen, dann schneiden wir uns. Das ist doch nicht fair! „Es gab noch gar kein Essen. Soll ich eben schnell etwas kochen?", fängt Lene an und will schon aufstehen. Ich überlege. „Klar, das wäre jetzt bestimmt eine gute Idee. Ich habe auch schon einen Bärenhunger. Ich frage die Jungs und Annika, ob sie uns helfen wollen.", sage ich und erhebe mich. Mama und Lene tun es mir gleich. Jedoch verlassen sie nicht wie ich die Küche, sondern suchen sich alles zusammen, woraus man ein leckeres Abendessen zaubern könnte. Ich gehe nach oben und klopfe an die Zimmertür, hinter der ich die Kinder vermute. „Ja?", ertönt es sogleich und ich trete ein. Als ich eintrete, muss ich schlucken. Das Bild, das sich mir bietet, lässt mein Herz stillstehen. Da sitzen diese drei tapferen Kinder auf den Boden und bauen aus Legosteinen ein Haus. „Ist alles in Ordnung, Onkel Chris?", fragt Felix leise. Ich nicke und beiße mir auf die Lippen. Verdammt, was sind diese Kinder doch tapfer. „Wir wollen...", beginne ich und räuspere mich, als meine Stimme bricht, „Wir wollen unten jetzt alle gemeinsam kochen. Helft ihr uns?" Sofort stehen Felix und Annika auf. „Ich bin als Erster unten.", ruft Felix und stürmt aus dem Zimmer. Annika rennt ihm jammernd hinterher. „Vorsicht an der Treppe!", warne ich sie. Dann wandert mein Blick zu Liam, der wie paralysiert auf den Boden starrt und den Legostein in seiner Hand dreht er schon die ganze Zeit hin und her. „Liam?", frage ich leise. Doch er reagiert nicht. Ich setze mich neben ihn auf den Boden. „Hey Großer, ist alles in Ordnung bei dir?" Kaum habe ich das ausgesprochen, könnte ich mich dafür auch schon wieder ohrfeigen. Natürlich ist alles in Ordnung. Sieht man das nicht? Natürlich ist alles in Ordnung. Sein Vater liegt im Krankenhaus. Sieht man das nicht? Natürlich ist alles in Ordnung. Warum sollte es das denn nicht sein? Was für eine bescheuerte Frage!
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Nothing else matters ~ Ehrlich Brothers
FanfictionDie Brüder Chris und Andreas Ehrlich, besser bekannt als die "Ehrlich Brothers", feiern nach knapp dreieinhalb Jahren ihren großen Tourabschluss in einer gigantischen Show. Doch nach den großen Feierlichkeiten geht es für die beiden Brüder wieder zu...