„Dann wollen wir mal.", sage ich und starte den Motor. Ich fahre ganz langsam los und wir verlassen das Gelände des Krankenhauses. „Wollen Sie nochmal winken?", necke ich Frau Hartl. „Jetzt wo Sie es sagen, es war da doch ganz schön. Ich habe viele neue Leute kennengelernt, es wurde gekocht. Ich fand das zu Abwechslung mal ganz spannend.", grinst sie. Darauf kann ich nichts mehr antworten und nur noch lachen. Eine super Antwort, das hatte ich sicherlich nicht erwartet. „Okay, das kann ich nur zum Teil verstehen.", antworte ich also. Ich lenke den Wagen sicher durch den mittlerweile dichten Mittagsverkehr. „Ich habe gestern Abend noch viel über Sie nachgedacht.", beginnt Frau Hartl plötzlich ein neues Thema. Ich schaue kurz zu ihr. Was soll das jetzt heißen? „Okay." Sie seufzt. „Ja, das habe ich. Was Sie über ihre Freundin gesagt haben, dass hat mich sehr mitgenommen. Und ich kann Sie vielleicht sogar besser verstehen, als Sie denken. Ich habe zwar nicht meine beste Freundin vor zwei Monaten verloren. Allerdings ist mein Bruder vor einem halben Jahr verstorben..." Ihr Stimme wird zum Ende immer leise und ich habe große Mühe sie noch zu verstehen. Aber ich kann es. Ich kann verstehen, was sie gesagt hat. Und ich weiß nicht, was ich da jetzt so direkt drauf antworten soll. „Ich... Ähm, also... Das...", stottere ich. „Schon klar, es tut jedem leid. Soweit kann ich es Ihnen abnehmen, Herr Reinelt.", meint sie. „Wissen Sie, mein Bruder und ich waren im Prinzip genau das, was Sie mit Ihrer Freundin hatten. Dieses blinde Vertrauen. Vielleicht haben Sie es ja auch mit Ihrem Bruder, aber weil Sie mir nur von Ihrer Freundin erzählt haben, habe ich mir das daher geleitet." Sie hustet einmal kurz. „Ich liebe meinen Bruder wirklich sehr. Immer noch. Aber das ist ja verständlich. Liebe hört ja nicht auf, wenn die Person stirbt. Aber als Sie dann auch von Ihrem Bruder erzählten und anriefen, um mir mitzuteilen, dass Sie vorerst bei seiner Familie bleiben..." Sie hustet erneut und ich sehe zu ihr. „Soll ich ein Fenster aufmachen?", frage ich sie.
Frau Hartl nickt. „Das wäre lieb. Vielen Dank.", antwortet sie. Ich lächle und öffne das Beifahrerfenster ein kleines Stückchen. „Der Verlust meines Bruders hat mich damals sehr mitgenommen. Ich habe tagelang nur geweint und mich völlig vergessen. Als ich Sie am Telefon hörte, da erinnerte mich das...", beginnt Frau Hartl, doch ihre Stimme bricht ab. Ich kann das verstehen. Meine Stimme ist auch in den letzten Tagen ziemlich gebrechlich geworden. „Schon gut, Sie müssen das nicht alles erzählen, wenn Sie nicht wollen.", versichere ich ihr. Doch sie hebt die Hand. „Nein, ich möchte es ja erzählen. Ich habe noch nie wirklich über den Tod meines Bruders gesprochen. Nur geschwiegen und niemanden mehr an mich heran gelassen. Als Sie mich damals baten, dass ich mich um Ihre Wohnung kümmern sollte... Das war für mich ein neuer Anfang. Ich hatte eine Aufgabe, aber trotzdem habe ich immer weiter über meinen Bruder geschwiegen. Das auf der einen Seite und auf der anderen Seite habe ich die ganzen Bilder immer noch in meiner Wohnung stehen.", berichtet sie. Ich runzle die Stirn. „Aber, aber! Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun, finden Sie nicht? Sie brauchen die Bilder doch nicht gleich verbrennen, nur weil Sie nicht über Ihren Bruder reden!" Frau Hartl lacht. „Ja, das ist jetzt auch meine Meinung und ich würde gern weiter über ihn sprechen. Wenn das für Sie in Ordnung ist?", fragt Frau Hartl. Ich nicke. „Aber natürlich. Ich freue mich, wenn Sie Ihre gemeinsame Geschichte mit mir teilen.", sage ich.
Und Frau Hartl beginnt zu berichten. Von dem ersten Moment mit ihrem Bruder, als sie beide noch klein waren. Dann wie sich alles in der Schule weiterentwickelt hat. Sie berichtet von den Kriegen und der ständigen Sorge, ob ihr Bruder wieder nach Hause kommen wird. Sie erzählt von seiner Hochzeit und den Kindern. Ich höre ihr gerne zu und biege drei Kreuzungen eher rechts ab. Wir fahren einfach mal einen kleinen Umweg, damit wir nicht sofort zu Hause ankommen. „Aber irgendwie wollte der liebe Herr ihn nicht länger bei mir lassen. Er nahm ihn mir einfach bei einem Unfall mit einem Motorradfahrer. Es wurde festgestellt, dass mein Bruder nicht schuld am Unfall war und der Staatsanwalt forderte die Höchststrafe. Damals war ich so wütend, dass ich dem zugestimmt habe und heute bereue ich es so sehr, wie nichts anderes auf dieser Welt.", seufzt Frau Hartl. Ich schlucke. „Ich verstehe Sie. Ich muss aber auch sagen, dass ich Ihre Reaktion nachvollziehen kann und deswegen hätte ich wahrscheinlich genauso gehandelt. Also, es trifft Sie keine Schuld.", sage ich. Meine Nachbarin nickt. „Ja, das mag schon sein." Und dann schweigen wir beide. Das Radio dudelt leise vor sich hin und ich lenke den Wagen sicher über eine Landstraße, die uns über einen Umweg nach Hause bringen soll. Gerade ist im Radio ein Lied zu Ende gegangen und das nächste fängt an. Ich erkenne es sofort, aber ich sage nichts. Ich genieße es einfach. Am liebten würde ich mitsingen, aber bei Gästen im Auto will es vermeiden. Hinterher will Frau Hartl noch lieber laufen, als mit mir im Auto zu sitzen. Aber leise mit summen ist sicherlich nicht verboten. Ich lege den nächsthöheren Gang ein und lenke das Auto sicher über die Straße.
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Nothing else matters ~ Ehrlich Brothers
FanfictionDie Brüder Chris und Andreas Ehrlich, besser bekannt als die "Ehrlich Brothers", feiern nach knapp dreieinhalb Jahren ihren großen Tourabschluss in einer gigantischen Show. Doch nach den großen Feierlichkeiten geht es für die beiden Brüder wieder zu...