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Am nächsten Morgen beginnt das Leben schon ganz früh im Haus. Gegen halb sieben ertönt das laute Gepolter von oben und ich sitze senkrecht auf der Couch. „Guten Morgen, Onkel Chris!", begrüßen mich die Jungs. Ich winke ihnen müde zu. Wie macht Andreas das nur? „Onkel Chris! Was gibt es denn zum Frühstück?", ertönt es wenige Minuten später aus der Küche. Ich seufze. Hat Lene sich denn noch nicht darum gekümmert? Ich werfe die Decke zurück und stehe auf. Da kommt Lene auch schon angelaufen. „Chris, wir haben ein Problem!", schnauft sie. Ich ziehe verwundert die Augenbrauen hoch. Haben wir das? Haben wir ein Problem? Irgendwie könnte man gerade das schlimmste erwarten? „Ich höre. Erzähle mir von unserem Problem." Lene holt tief Luft. „Also, Annika liegt mit Fieber im Bett. Die kann heute nicht in den Kindergarten. Und die nächsten zwei Tage auch nicht.", meint Lene. Ich bin etwas verwirrt. Was ist denn daran jetzt so schlimm? Wir sind doch alle Zuhause. „Ich muss arbeiten, Chris. Mein Chef hat heute ein wichtiges Meeting. Als ich ihn vorhin angerufen habe, um mich einen weiteren Tag krank zu melden, hat er mir das erzählt. Er braucht mich also. Wenn ich da heute nicht erscheine, dann braucht er mich in den nächsten zwei Monaten nicht mehr. Also, ich muss da wirklich hin. Kannst du dich bitte für diese Zeit um Annika kümmern? Es tut mir wahnsinnig leid! Wirklich, das musst du mir glauben.", erklärt mir Lene ohne einmal Luft zu holen. Ich nicke. „Keine Sorge, ich mache das schon. Ich bin Zuhause und werde mich um meine Nichte kümmern. Heute steht sowieso nichts besonderes an.", sage ich. „Eigentlich würde ich jetzt ja auch Andreas fragen, ob er sich um seine Tochter kümmern kann. Aber das geht ja leider nicht...", flüstert sie leise und ich schlucke. Ja, eigentlich würde sie das. Aber nur eigentlich. „Ich meine, er ist ja gerade nicht hier und deswegen... Ich kann... Er...", schluchzt Lene plötzlich und hält sich die Hand vor den Mund. Ich nehme sie vorsichtig in den Arm. Schon wieder sind wir an dem Punkt, an dem ich ihr so gerne sagen würde, dass alles wieder gut wird. Aber das kann ich nicht. Sie war auch im Krankenhaus und hat das gleiche gesehen wie ich. Ich kann sie nicht anlügen. Das geht nicht. Die wunderschöne Lüge, dass alles wieder gut wird, kann ich ihr nicht auftischen. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Wenn ich wirklich zaubern könnte. Dann hätte ich das auf jeden Fall schon gemacht. Es einfach rückgängig gemacht. Und es aber dann auch verhindert!

Ist das jetzt meine Schuld? Bin ich das schuld? Hätte ich mehr für ihn da sein müssen? Ich bin doch sein Bruder. Auch in meinen Augen sammeln sich plötzlich wieder Tränen. Es tut einfach weh. Und es ist ein Schmerz, den man nicht beschreiben kann. Ein Schmerz, den man nicht ignorieren kann. Ein Schmerz, der einen handlungsunfähig macht. Der einen einengt und der alles von einem abverlangt. Und so stehe ich hier gerade mit der Frau meines Bruders in meinen Armen und versuche sie zu trösten. Sie liegt in meinen Armen und weint. Sie tut mir leid und sie weint. Vermutlich würde ich auch weinen, wenn ich nicht versuchen würde stark zu bleiben. „Okay, Ich muss jetzt los. Melde dich bitte, wenn es ihr schlechter oder bestenfalls besser geht. Ich arbeite auch nicht lang und frage meine Chef, ob ich nach dem Meeting wieder gehen darf.", meint Lene dann und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Wenn Andreas das jetzt gesehen hätte! Dann hätte er bestimmt solange gemeckert, bis Lene ihm auch einen gegeben hat. Ich grinse. Lene ist inzwischen schon verschwunden und hat die Jungs mitgenommen. Tja, das Leben als Schüler ist eben hart. Ich weiß das. Wieder muss ich grinsen, denn meine Schulzeit war eigentlich ganz geil. Bis auf die vielen Lehrer, die vielen Unterrichtsstunden, die wenigen Pausen und die nervigen Mitschüler...

Ich schlendere gemütlich hoch den Kinderzimmern und bleibe bei Liam's stehen. Ob Mama noch schläft? Besser ich wecke sie dann nicht. Auch wenn man der Lautstärke vorhin sicherlich nicht weiterschlafen konnte. Also, dann hätte sie einen echt tiefen Schlaf oder ist taub. Ich schmunzle und gehe weiter bis zu Schlafzimmer von Andreas und Lene. Das ist doch echt verrückt. Da haben sie früher zusammen drin geschlafen. Darin haben sie sich ein Bett geteilt. In diesem schläft Andreas nun allein. Okay, manchmal. Denn ganz oft schlafe ja auch ich einfach bei ihm. Abends lagen wir nach einem langen Arbeitstag dann zusammen im Bett und haben auch manchmal noch über das Leben philosophiert. Oft auch ganz nah aneinander gekuschelt. Vorsichtig öffne ich die Tür. Und da liegt die kleine Maus auf dem Bett. Ziemlich weit in der Mitte. Hände und Füße in alle Richtungen ausgestreckt und die Decke weggestrampelt. Die Augen geschlossen scheint sie tief und fest zu schlafen. Ich lächle. Dann lasse ich sie auch erstmal weiterschlafen. In der zeit kann ich mich ja auch mal fertig machen. So waschen, frühstücken. Das wäre doch mal ein Anfang. Und danach vielleicht auch mal das Team ins Boot zu holen. Denen zu sagen, dass die nächsten Termine alle ausfallen müssen. Also, doch viel zu tun. Aber das kann ich auch von hier aus. Da muss ich nicht wirklich für ins Büro. Das heißt, ich kann auf meine kleine Nichte schön aufpassen. „Guten Morgen, Chris.", höre ich plötzlich Mamas Stimme hinter mir. Ich zucke zusammen. Dann drehe ich mich um und tatsächlich steht Mama lächelnd hinter mir. „Boah, hast du mich erschreckt!" Mach das ja nicht zu oft!", beschwere ich mich und Mama lacht. „Warum sollte ich das denn nicht öfter machen?", fragt sie. „Ganz böse Mama, eine ganz böse Mama.", sage ich und hebe den ermahnenden Zeigefinger. Mama lacht erneut. „Nach drei Kindern muss man sich auch irgendwie durchschlagen. Was meinst du denn?", gibt sie schlagfertig zur Antwort. Da bin ich jetzt aber baff. Ich wusste ja nicht, dass meine Mutter so gut kontern kann. Aber recht hat sie schon, bei uns drei Kindern muss man wirklich sehen wo man bleibt. Das gebe ich zu. Wir waren ja auch nicht immer nur Engel. Wir waren es oft, aber eben oft auch nicht. „Sind Lene und die Kinder schon weg?", spricht Mama ein neues Thema an. „Sie bringt die Jungs in die Schule und muss danach kurz arbeiten. Ihr Chef braucht sie heute für ein wichtiges Meeting. Aber sie will nicht lange arbeiten, weil es ihr auch immer noch sehr schlecht geht.", erkläre ich. „Aber Annika liegt auch mit Fieber im Bett. Also, es ist ein krankes Kind zu Hause.", füge ich noch hinzu und Mama verzieht mitleidig das Gesicht. Ich nicke. „Ja, ich habe gerade geguckt und sie schläft noch. Ich wäre dafür, sie schlafen zu lassen. Dann mache ich mich eben fertig.", schlage ich vor. Mama nickt. „Mach das. Hast du schon gefrühstückt?", fragt Mama. Ich schüttle den Kopf. Haben die Jungs nun eigentlich etwas gefrühstückt? Denn irgendwie kam ich ja nicht mehr dazu, ihnen etwas zu machen. Oder überhaupt ihre Frage zu beantworten, was es geben könnte.

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt