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Und dann für heute noch. Ab jetzt geht es auf das Ende zu... Ich habe noch 9 Kapitel für euch.

Ich parke meine Wange vor dem Krankenhaus. Dann stelle ich den Motor aus. Also dann, auf in die Hölle. Ich schlucke und schaue zu Lene. Seit wir im Auto sitzen hat sie keinen Ton von sich gegeben. „Glaubst du, die Jungs sind sauer, weil sie nicht mitdurften?", fragt sie plötzlich und ich weiß gar nicht, was ich darauf antworten soll. Jedenfalls nicht sofort. „Bestimmt nicht. Liam und Felix wissen ganz genau, dass du das nicht böse meintest. Vertraue mir, die beiden tragen dir das sicherlich nicht nach. Und vielleicht können sie ja morgen nach der Schule mit.", sage ich dann nach langer Überlegung. Doch Lene ist nicht ganz überzeugt. „Ich habe einfach bloß Angst. Verstehst du? Sie lieben ihren Vater. Oh Gott, sie himmeln ihn regelrecht an. Wenn er von der Tour nach Hause kommt, bin ich für Stunden und Tage abgemeldet."; lächelt sie und ich spüre deutlich, wie sehr ihre Stimme zittert. Ich lege meine Hand auf ihre. „Lene, deine Kinder lieben dich doch auch. Und dein Mann liebt dich erst recht.", erkläre ich mit Nachdruck. Sie nickt und öffnet die Autotür. „Gut, dann gehen wir jetzt." Lene atmet einmal tief durch und verlässt dann das Auto. Ich seufze und tue es ihr dann gleich. Gemeinsam mit der Frau meines Bruders mache ich mich auf ins Lukas-Krankenhaus. Am Empfang melden wir uns an und werden dann auf die Intensivstation weitergeleitet. Bis zum Zimmer ist es nicht weit, aber Lene hält die ganze Zeit meine Hand. Ich kann es ihr nicht verübeln, auch ich habe Angst. Vor der Station werden wir nochmal gefragt, zu welchem Patient wir gerne möchten und werden dann auf die Station gelassen. Eine Schwester bringt uns zu dem Zimmer, in dem Andreas zu liegen scheint. Kaum hat die Schwester die Tür geöffnet, schlägt mein Herz schneller. Oder schlägt es überhaupt noch? Auf jeden Fall kann ich deutlich spüren, wie mein ganzer Körper davon betroffen ist. Mir ist mit einem mal ganz heiß und meine Wangen beginnen zu glühen. Ich fühle mich schwach und würde mich am liebsten mal setzen. Ich kann noch nicht einmal ins Zimmer sehen und es macht mir schon so große Angst. Wann war ich das letzte Mal auf der Intensivstation? War ich das überhaupt schon mal? Naja, ja. War ich. Als Papa starb, waren wir bei ihm auf der Intensivstation. Das werde ich nie vergessen. Plötzlich berührt mich jemand am Arm und ich zucke zusammen. Und tada, wir sind wieder in der Realität angekommen. „Gehst du bitte mit mir rein?", flüstert Lene. Ich sehe sie an. Was kann ich da in ihrem Gesicht erkennen? Angst, Hoffnung, gibt sie sich etwa die Schuld? „Ich bin direkt hinter dir.", sage ich. Dann treten wir endlich ins Zimmer. Ich schlucke, als ich meinen Bruder schließlich sehen kann. Wie er da im Bett liegt, an diese ganzen Geräte angeschlossen. Er sieht so hilflos aus. Seine Augen sind geschlossen und er ist unglaublich blass. Die Lippen sind bläulich und lila verfärbt. „Ihr Ehemann ist stabil. Letzte Nacht war er einmal kurz wach und ansprechbar, dann ist er allerdings wieder eingeschlafen. Das braucht sein Körper jetzt auch. Um ihn beim atmen zu unterstützen bekommt er vier Liter Sauerstoff über diese Sauerstoffbrille. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Er atmet ganz selbstständig und das dient bloß zur Unterstützung. Alles andere erklärt Ihnen gleich bestimmt auch Dr. Menges.", sagt uns die nette Krankenschwester. Ich nicke und bedanke mich bei ihr. „Eine Frage noch. Wie nah dürfen wir an ihn heran?", fragt Lene. Ihr Blick ist starr auf ihren Mann gerichtet. Die Schwester lächelt. „Setzen Sie sich ruhig auf die Bettkante. Das ist nicht schlimm. Berühren Sie ihn, zeigen Sie ihm, dass Sie für ihn da sind. Aber erwarten Sie nicht zu viel.", sagt sie und danach ist sie auch schon verschwunden. Lene und ich stehen immer noch an derselben Stelle. Keiner hat sich näher ans Bett getraut. Ich schlucke. Da liegt wirklich mein Bruder. Irgendwie ist das seltsam und kaum zu begreifen. Er ist mein Bruder. Wir saßen früher zusammen in der Badewanne. Aber die Person, die dort im Bett liegt erscheint mir so fremd. Nichts von der brüderlichen Vertrautheit ist da.

„Andreas?", höre ich Lene flüstern. Oh mein Gott, was tut sie mir doch leid. Und da geht sie einen Schritt auf das Bett zu. Ich merke es kaum, sehe es bloß aus dem Augenwinkel. Gerade ist mir etwas anderes im Raum aufgefallen. Ich habe mich schon gefragt, woher dieses leise gleichmäßige Piepsen kommt. Jetzt weiß ich es und frage mich, warum ich da nicht schon eher draufgekommen bin. „Andreas, mein Schatz.", vernehme ich erneut Lenes Stimme. Wie in Trance wende ich mich vom EKG ab und sehe zu Lene. Inzwischen hockt sie tatsächlich auf Andreas' Bett. Erneut muss ich schlucken. „Hey, es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir." Wow, warte mal. Moment! War das wirklich meine Stimme eben. Das kann unmöglich sein, obwohl sie sich fast genauso angehört hat. Haben sich etwas meine Lippen bewegt? Es fühlt sich gar nicht so an. Aber das mit dem fühlen ist auch so eine Sache. „Glaubst du das wirklich?", fragt Lene mich. Ich zucke mit den Schultern. „Naja, unter anderen Umständen würde ich jetzt sagen, dass ich nur an die Magie glaube. Doch hier kann ich dir gerade gar nicht sagen, was ich glaube. Oder an wen. Weißt du, früher habe ich immer an ihn geglaubt.", flüstere ich und starre meinen Bruder an. „Damals war er mein großes Vorbild. Ich wollte immer werden wie er. Ich war ständig so neidisch. Er hatte immer alles im Griff. Die Schule und seine Pläne danach. Bei den Damen kam er immer gut an. In meinen Augen war er einfach perfekt für diese Welt.", hauche ich und kann den Blick nicht lösen. Doch plötzlich taucht Lene in meinem Blickfeld auf. „Stop!", sagt sie und nimmt meinen Kopf in ihre Hände. Sie dreht ihn so, dass ich sie angucke und mich von Andreas lösen muss. Also sehe ich sie jetzt an. „Hör auf über ihn in der Vergangenheit zu sprechen. Er ist noch hier. Geh zu ihm.", bittet Lene mich. Ich schlucke. Natürlich weiß ich, dass er noch hier ist. Ich kann ihn doch sehen. Und ich kann sogar seinen Herzschlag hören. Ich weiß also, dass er noch hier ist. Vorsichtig hebe ich meine Hände und nehme Lenes Hände in meine. „Er schlägt sich gut.", krächze ich. Lene nickt. „Hoffentlich kommt bald der Arzt...", flüstert Lene. Genau in diesem Augenblick öffnet sich die Tür. „Sie wünschen sich einen Arzt? Ich hoffe ich kann Ihnen helfen.", begrüßt uns ein grauhaariger Mann scheinbar in seinen Vierzigern. Er schiebt sich kurz seine Brille auf die Nase und reicht uns dann höflich die Hand. „Ich nehme an, Herr und Frau Reinelt? Der Bruder und die Ehefrau, richtig?" Lene und ich nicken beide. „Sehr schön, mein Name ist Dr. Menges. Ich habe Ihren Mann und Ihren Bruder gestern aufgenommen. Allerdings werde ich ihn später oder sogar erst morgen an einen Kollegen übergeben. Mein Kollege ist mit der Intensivmedizin und der weiteren Behandlung besser vertraut. Der Kollege Dr. Lendzian ist ein Spezialist auf diesem Gebiet und kann Ihnen auch alles genau zur Anästhesie erklären. Zunächst wundern Sie sich bitte nicht. Ihr Ehemann und Bruder hat ein leichtes Anästhetikum und Narkotikum bekommen, damit er keine Schmerzen hat. Heute Nacht war er für ein paar Minuten wach und bekam von uns Schmerzmittel. Danach ist er wieder eingeschlafen. Vor etwa anderthalb Stunden war er erneut wach, allerdings orientierungslos und ziemlich verwirrt.", erklärt uns Dr. Menges was er weiß. Ich weiß nur nicht, ob ich mir das alles merken kann. Könnte ich es also bitte schriftlich haben, damit ich es nochmal durchlesen kann? Oder aufnehmen? Dann kann ich es mir auch nochmal anhören. Am besten beides. Lesen und hören. Doch Dr. Menges fährt fort: „Was ich Ihnen nun als Diagnose nennen kann, ist folgendes: Herr Reinelt hat eine Sepsis und das ist ein lebensbedrohlich. Eine Sepsis bedeutet umgangssprachlich nicht anderes als Blutvergiftung. Es gibt unterschiedliche Arten dieser Blutvergiftung. Aber wir haben Glück und er hat noch keinerlei Anzeichen für einen septischen Schock. Im Moment haben wir gute Chancen, aber das kann sich jederzeit noch ändern. Die Symptome und die ersten Anzeichen haben wir wahrgenommen und dem entgegen gewirkt. Wir behandeln ihn mit allen verfügbaren Medikamenten. Derzeit läuft es gut. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es so bleibt. Wir arbeiten gerade mit den neuen Testergebnissen an einem geeigneten Behandlungsplan.", sagt Dr. Menges. Ich schlucke. Wow, ich dachte wirklich, es wäre nicht so schlimm. Aber das alles hier klingt, wie der wahrgewordene Alptraum. Ich sehe zu Lene. Was mache ich mir Sorgen um meinen Alptraum. Wie geht es ihr? „Lene, sieh mich an.", bitte ich sie. Aber die Frau meines Bruders hat nur Augen für ihn. Ihre Augen sind gefüllt mit Tränen und sie zittert am ganzen Körper. „Hey, er ist stark und er wird das schaffen. Verstehst du, Lene? Dein Mann ist stark.", flüstere ich und lege meine Hand auf ihre Schulter. „Oh mein Gott.", haucht Lene und hält ihre Hand vor den Mund. „Oh mein Gott!" Sie sieht mich an mit großen entgeisterten Augen an. „Oh mein Gott!", wiederholt sie sich. Ich nehme sie vorsichtig in den Arm und gebe mir größte Mühe sie zu beruhigen. „Alles wird gut.", murmle ich. Hoffentlich glaubt sie mir das auch. Ich halte sie fest in meinen Armen. Nur langsam beruhigt sie sich und lässt es zu, dass ich sie umarme. Die ganze Zeit steht Dr. Menges stumm daneben. Was sollte er auch tun? Da gibt es nicht, was er hätte tun können. Das einzige, das es vielleicht geschafft hätte, die Situation erträglicher zu machen, wäre nur die Auflösung dieses schlechten Scherzes. Aber auch da passiert nichts. Nein, keiner versucht und zu erklären, dass es bloß ein Scherz war. Da kommt niemand. Also ist es wahr. All das hier ist tatsächlich wahr. Und darum weint Lene nun auch bitterlich. Und darum weine auch ich. Und darum gibt es auch nichts auf der Welt, was diesen Augenblick hier erträglicher machen könnte.

„Und was passiert jetzt?", frage ich Dr. Menges. Dieser neigt den Kopf und tritt näher ans Bett. Ein gutes Zeichen? „Wir behandeln ihn mit allem was uns zur Verfügung steht. Bitte glauben Sie mir, dass er in sehr guten Händen ist und wir alles in unserer Macht stehende tun, um Ihrem Bruder und Ehemann zu helfen.", erklärt Dr. Menges und ich nicke. Aber natürlich. Es sind immer alle bemüht alles zu tun und nicht eher aufzugeben. Das ist immer so. Aber gut zu wissen. „Können Sie denn schon sagen, wann er es überstanden hat?", erkundigt sich Lene. Dr. Menges lächelt. „Ganz genau kann ich Ihnen das leider nicht sagen. Aber wenn die Therapie und die Medikamente anschlagen, dann vielleicht zwei bis drei Wochen. Wenn alles wie gesagt gut läuft.", Dr. Menges räuspert sich. „Hören Sie, ich will Ihnen nichts versprechen und keine falschen Hoffnungen machen. Ebenso wenig möchte ich Ihnen die Hoffnungen nehmen. Das ist eine Momentaufnahme.", erklärt er. Ich nicke. „Vielen Dank für Ihre Offenheit. Das bedeutet uns viel.", antworte ich für Lene. Sie hat kein Wort mehr gesagt, nachdem sie ihre Frage gestellt hat. Ich kann sie verstehen. Es ist wirklich heftig. „ Es gibt bestimmt noch vieles, das Sie fragen möchten. Und auch viele von den Dingen, die ich genannt habe, werden Sie vergessen haben oder bald vergessen. Das ist überhaupt nicht schlimm. Natürlich können Sie mich auch jederzeit rufen lassen, jedoch muss ich Sie nun erstmal verlassen. Ich bitte um Entschuldigung.", verabschiedet sich Dr. Menges nun von uns. Ich reiche ihm höflich die Hand und auch Lene drückt die Hand des Arztes zum Abschied. Dann sind wir auch schon allein. Lene löst sich aus meinen Armen und geht ganz nah ans Bett. Sie beugt sich zu Andreas hinunter und flüstert ganz leise: „Du hast keine Wahl, Andreas. Du musst wieder gesund werden. Wir brauchen dich. Ich brauche dich, Chris braucht dich. Deine Kinder brauchen dich, sie brauchen ihren Vater. Und deine Fans brauchen dich. Schatz, ich bin dein größter Fan. Ich brauche dich, verstehst du?" Ich schlucke. Klar, das hier ist schwer. Aber seine Frau so zu sehen. Was soll ich tun? Am liebsten würde ich selbst ohne Ende heulen. Es geht hier um meinen Bruder. Ich liebe ihn doch so sehr. Was soll ich denn bloß ohne ihn machen? Ohne ihn wäre ich doch völlig aufgeschmissen. Oh Andreas, was hast du bloß getan? Ich verstehe das alles nicht. Kannst du es bitte erklären? Meine Hände krallen sich an das Gestell des Bettes am Fußende.

Es klopft. Ganz kurz und irgendwie energisch. Zuerst dachte ich, es wäre nur Einbildung. Doch da geht tatsächlich die Tür hinter mir auf. Ich zucke ertappt zusammen. Aus meiner Gedankenwelt zurück in die Realität gejagt. In nur einer einzigen Sekunde. Ich sehe mich um. Zuerst sehe ich Lene, die am Bett sitzt und Andreas' Hand hält. Wie lange hält sie diese wohl schon? Dann drehe ich mich zur Tür und erkenne, wer ins Zimmer getreten ist. „Hallo zusammen, es tut mir sehr leid und ich will Sie auch gar nicht verscheuchen. Allerdings ist gleich Visite und danach erhalten die Patienten ihr Abendessen. Deswegen müssen Sie leider das Zimmer verlassen. Außerdem ist die Besuchszeit in wenigen Minuten vorbei. Natürlich können Sie morgen wiederkommen.", erklärt eine etwas kleinere Krankenschwester. Ich nicke. „Aber natürlich, wir wollten keine Schwierigkeiten machen.", sage ich und will schon zu Lene gehen. Doch da hält die Krankenschwester mich am Arm zurück. „Machen Sie in Ruhe. Ich gebe Ihnen noch fünf Minuten zusätzlich. Bis dahin habe ich die Medikamente vorbereitet und die Zeit können sie noch nutzen.", lächelt sie freundlich und deutet mit dem Kopf unauffällig zu Lene, die ganz leise mit Andreas spricht. Ich nicke und dann sind schon wieder allein. Also, Lene und ich. Zusammen mit Andreas. Ich tapse ganz vorsichtig näher an sie heran. Ich will sie nicht erschrecken. Dann lege ich meine Hand vorsichtig auf ihre Schulter. Lene zuckt zusammen. „Hey, hey. Ganz ruhig. Ich bin es nur.", beruhige ich sie. Lene fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. „Ich dachte schon...", murmelt sie. Ich verziehe das Gesicht. Was dachte sie? „Nein, alles gut. Bin nur ich. Aber es war gerade eine Schwester da. Sie meinte, dass sie Besuchszeit in fünf Minuten vorbei ist. Aber sie kommt dann auch nochmal vorbei.", erkläre ich und warte auf Lenes Reaktion. „Was? Wirklich?", ist Lene überrascht und klammert sich nur noch mehr an Andreas' Hand. Ich nicke und Lene dreht sich wieder zu Andreas. Mit einer Hand streicht sie ihm liebevoll über die Wangen. Es tut mir im Herzen weh, sie so zu sehen. Aber was soll ich machen?

to be continued...

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt