~ 26 ~

182 11 2
                                    

„Sie hat sich das Leben genommen. Vor einigen Monaten. Für mich kam es eigentlich nicht ganz überraschend...", sage ich. Frau Hartl macht große, erstaunte Augen. „Bitte? Sich das Leben genommen? Wie das denn?", ist sie fassungslos. Ich nicke. „Ja, es war ein Mittwochabend. Ich kann mich noch genau an diesen verdammten Tag erinnern. Als wäre er in mein Gedächtnis eingebrannt worden. Es war dieser erste gemeinsame Mittwochabend, nachdem wir wieder von einer stressigen Tour zurückkamen. Auf ihre Anweisung hin habe ich mir den nächsten Tag frei genommen. Wir sind morgens frühstücken gegangen. Richtig fein. Sie sagte, dass wäre, weil sie mich lieb hat. Weil ich ihr wichtig bin. Sie wollte sich bei mir bedanken..." Meine Stimme bricht ab. Ich räuspere mich und versuche die Tränen noch zurückzuhalten. „Anschließend sind wir durch die Stadt spaziert. Ich denke, es waren tatsächlich drei Stunden, die wir unterwegs waren. Dadurch, dass wir relativ spät frühstücken waren, war es schon Nachmittag. Aber sie meinte, das wäre egal. ‚Zeit spielt heute keine Rolle.', hat sie gesagt." Ich hebe meinen Blick und lasse ihn über die schöne Anlage des Krankenhauses schweifen. „Wir haben viel Zeit in der Stadt verbracht und sind dann spät nach Hause. Zuhause war alles normal, wissen Sie? Ich bin duschen gegangen, dann sie. Ich habe gekocht und wir haben gegessen. Sie trug ihren Lieblingspullover. Nach dem Essen habe ich den Tisch abgeräumt und sie kam auf mich zu. Sie hat mich umarmt, ganz fest in den Arm genommen. Sie hat mir leise ins Ohr geflüstert, dass ich ihr bester Freund wäre. Sie hat mir gesagt, dass ich für immer ihr Teddy bleiben würde. Aber sie hätte jetzt noch einen Termin und müsste deswegen noch einmal weg." Der Kloß in meinem Hals wird immer dicker. „Ich war so ein Idiot. Ich habe gesagt, dass sie sich nicht beeilen muss und ich dann auf sie warten werde. Dann hat sie mir einen Kuss auf die Wange gegeben und ist verschwunden."

Die Erinnerung tut weh. Sie tut so unendlich weh. „Zwei Stunden später klingelte es an meiner Tür. Ein Polizist wollte wissen, ob mein Name Christian Reinelt ist. Als ich nickte, meinte er ich wäre als Notfallkontakt angegeben gewesen. Bei einer jungen Dame, die vor einer dreiviertel Stunde gefunden wurde. Sie habe sich wohl die Pulsadern aufgeschnitten. Danach weiß ich nicht mehr viel. Ich glaube, ich musste sie identifizieren, weil sie keine Papiere dabei hatte. Das mit dem Notfallkontakt hatte sie auf eine einfache Serviette geschrieben." Ich schließe meine Augen. Sie brennen unheimlich. Mein Hals und mein Mund sind so trocken. Um meine Brust scheint sich ein Gürtel zu ziehen. Die Luft wird immer knapper, als würde jemand langsam die Luft abdrehen. „Ich musste ihrem Vater sagen...", beginne ich und dann kann ich nicht mehr. Die Tränen haben gewonnen. Ich weine hemmungslos. Um mich herum nehme ich nichts mehr wahr. Es verschwimmt alles zu einem großen einzigen Farbfleck. Es fühlt sich an, als lässt gerade jemand seine ganze Wut an mir heraus. Von allen Seiten prasselt etwas auf mich herein. Mein ganzer Körper schmerzt und zieht sich zusammen. Ich höre in meinem Kopf ihr Lachen. Ihr unbeschwertes, freies Lachen. Wie konnte es nur so weit kommen? Wie konnte ich es nur jemals so weit kommen lassen? Ich habe sie gehen lassen, meine beste Freundin. Ich konnte sie nicht aufhalten! Ich konnte nichts machen. In meinem Hals ist ein Kloß, der es mir unmöglich macht zu atmen. Das Schreckliche am Weinen sind nicht mal die vielen Tränen oder das laute Schluchzen, sondern das Gefühl zu ersticken. Und man erstickt auch eigentlich nicht an den vielen Tränen oder an dem lauten Schluchzen, sondern an dem Schmerz der einen weinen lässt, habe ich mal irgendwo gelesen.

Die Zeit vergeht und keiner hat die Minuten oder Stunden gezählt, die wir schon hier draußen hocken. Aber ich starre immer noch auf den Boden. Auf irgendeinen Stein. Frau Hartl sitzt auch immer noch neben mir. Sie ist nicht gegangen, sondern sitzt die ganze Zeit brav neben mir. Sie hat auch nichts gesagt, die ganze Zeit nichts. Die Tränen laufen langsamer über mein Gesicht und versiegen allmählich. Auch der Kloß in meinem Hals verschwindet langsam. Es ist, als würde ich die Kontrolle wiederbekommen. Als wäre ich wieder Herr über meinen Körper, denn vorhin war ich es nicht. Vorhin habe ich laut geschluchzt und gehustet. Ich habe mir mit meinen Fäusten auf meine Oberschenkel geschlagen. Aber jetzt starre ich irgendwie teilnahmslos auf diesen komischen Kieselstein. Er ist wie jeder andere und ich sollte ihn auch nicht anstarren. Ich sollte mich zusammenreißen und an etwas anderes denken, als diesen Stein anzustarren. Aber ich kann nicht. Meine Gedanken gelten alle ihr. Meiner besten Freundin. Sie ist einfach gegangen, sie wurde mir einfach genommen. Keine Zeit sich ordentlich zu verabschieden. „Es gibt Zeiten, da würde ich sie sehr gerne mal wieder in meine Arme schließen. Sie ganz fest an mich drücken und dann flüstert sie mir ins Ohr, dass alles okay ist. Wissen Sie? Dass mir einfach nochmal gesagt wird, dass es okay ist. Besonders von ihr würde ich gerne hören, dass alles okay ist." Ich kann nicht sagen, ob das wirklich meine Stimme ist, die ich da vernehme. Aber es muss so sein, denn meine Lippen haben sich auf jeden Fall bewegt. „Ich vermisse sie jeden Tag, Frau Hartl. Manchmal erkenne ich sie in Teilen in Personen wieder und es tut echt weh, jedes Mal daran erinnert zu werden. Jedes Mal auf Übelste schmerzhaft daran erinnert zu werden, dass ich sie eben nicht wiedersehen kann.", erkläre ich und warte schon auf die nächste Flut der Tränen. Aber da kommt nichts. Als wären keine mehr da. Da ist einfach nichts mehr. Nichts mehr, als eine unendliche Leere. „Ich kann mich einfach nicht damit abfinden. Manchmal komme ich nach Hause und erwarte, dass sie auf mich zu kommt. Dass sie mich begrüßt, stürmisch in den Arm nimmt und mir ins Ohr flüstert, dass sie mich unglaublich vermisst hat. Aber das alles höre ich schon seit zwei Monaten nicht mehr. Es war der Achtzehnte April. Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen..." Ich schniefe. Meine Nachbarin nickt. Und dann setzt sie an: „Ich glaube, Sie versuchen es zu akzeptieren. Aber Sie können es nicht, Herr Reinelt. Ich glaube, man akzeptiert das nie. Man versuchst sich das einzureden. Es ist besser so.", meint Frau Hartl. Ich schlucke. „Sie packen das halt irgendwo hin. Vielleicht in die Ablage ‚Akzeptiert', obwohl es noch gar nicht dorthin gehört. Erst recht nicht nach zwei Monaten.", fügt sie hinzu. Ich schließe meine Augen für einen kurzen Augenblick.

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt