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Es tut gut. Es ist, als würden für einen Moment die ganzen Sorgen verschwinden. Für diesen einen kleinen Augenblick ist nichts, als Leere dort wo vorher die ganzen Gedanken waren. Wo sich die ganzen Sorgen eingenistet haben und sich alle Vermutungen versteckt haben. Für einen Moment ist alles weg. Es gibt nur mich und den Wind. Sonst gibt es nichts. Nichts, das gefährlich werden könnte. Nichts, das mir Angst machen könnte. Es gibt nur mich und den Wind. Wir sind unzertrennlich. Wie Andreas und ich. Und spätestens bei diesem Gedanken sind meine Augen wieder offen. Wie Andreas und ich. Ich hole tief Luft und lasse die gesamte Luft meine Lungen ausfüllen. Ich spüre, wie der Fahrer langsamer wird und schaue mich um. Ja, das ist unsere Straße. Wie oft sind wir hier schon langgefahren? Mit den Nightlinern zur Tour aufgebrochen, mit dem kleinen Firmenwagen zu TV-Auftritten, wie oft sind wir hier auch einfach nur lang gelaufen, weil uns danach war? Morgens nach einer langen Nacht in der Werkstatt war es üblich, dass wir ein Wettrennen zum Bäcker machten. Das war immer ganz schön weit und mindestens auf der Hälfte haben wir uns immer dafür entschieden, die letzten paar Meter einfach locker zu gehen. Dabei ergaben sich sehr oft neue Ideen oder Lösungen für Probleme.

„Sie können mich hier vorne an der Ecke raus lassen.", sage ich plötzlich und der Fahrer tritt fest auf die Bremse. „Sind Sie sicher? Bitte entschuldigen Sie, aber ich denke nicht, dass Sie gerade in der Verfassung sind, den restlichen Weg zu laufen.", merkt er an und mustert mich kritisch. Ich seufze und lächle dann. „Doch, hier bin ich schon oft hergelaufen. Vielen Dank. Wie viel macht das dann?", winke ich ab und zücke aus meinem Portemonnaie einen Zwanzig-Euro-Schein. Ich überreiche ihn dem Taxifahrer und flüstere nur: „Stimmt so." Dann schnalle ich mich ab und steige aus. „Vielen Dank! Passen Sie auf sich auf!", ruft er mir noch nach. Ich nicke. Ja, auf mich passe ich auf. Und so viele andere passen auch auf mich auf. Mir wird nichts passieren. Aber warum ist es dann Andreas passiert? Haben wir auf ihn nicht genug aufgepasst? Auch wenn er erwachsen ist, hätten wir uns mehr um ihn kümmern müssen? Ich hole tief Luft und setze mich in Bewegung. Meine Beine sind schwer wie Blei. So viele Erinnerungen verbinden wir mit dieser Straße. Zu unserer ersten Tour sind wir über diese Straße gefahren. Erst vor zwei Tagen sind wir von unserer zweiten Stadionshow hier zurückgekehrt. Man könnte fast sagen, dass diese Straße eine heilige Straße für meinen Bruder und mich ist. So schlendere ich die letzten hundert Meter zu Andreas' großem Grundstück über diese Straße. Sie macht mich nachdenklich. Wir haben alles was wir hatten, der Magie gewidmet. Wir haben viele andere Dinge in unserem Leben einfach übersprungen, weil wir die Magie hatten. Wir haben viel verpasst, weil wir die Magie hatten. Wir haben nur noch wenige wahre Freunde, weil wir die Magie hatten. Andreas sieht seine Kinder nur selten, weil wir die Magie haben. Seine Ehe ist daran zerbrochen, dass wir die Magie haben. Die Magie hat uns so viel genommen, auf so viel mussten wir alle verzichten. Eigentlich könnte ich sauer auf die Magie sein.

Bin ich aber nicht. Kann ich aber nicht. Will ich aber nicht. Wir haben uns bewusst für die Magie entschieden. Magie macht es möglich, dass wir viel um die Welt reisen und Städte sehen. Magie macht es möglich, dass Andreas seine Familie versorgen kann. Magie macht es möglich, dass wir immer wieder von Menschen zu hören bekommen, wie sehr sie sich wünschen noch einmal Kind zu sein und dass wir ihnen diesen Wunsch erfüllen. Magie macht es möglich, aus dieser Welt in eine völlig andere Welt einzutauchen. Magie macht es möglich, dass Menschen wieder anfangen zu träumen und auch ihre Träume leben. Magie macht es möglich, dass man weiter denkt, als man schauen kann. Magie macht es möglich, Grenzen zu überwinden und neue Wege zu finden. Magie macht es möglich, dass Menschen wieder anfangen zu lachen statt zu weinen. Die Magie hat uns also genauso viel gegeben, wie sie uns eigentlich auch genommen hat. Es gehört einfach zu unserem Leben dazu. Ein Leben von und mit der Magie war unser Traum. Zuerst Andreas' Traum und dann auch meiner. Und wo sind wir heute? Manche nennen uns die ‚weltbesten Showmagier', andere die ‚Trendsetter der Magie' und viele sagen auch einfach nur, dass wir coole Typen sind.

Nothing else matters ~ Ehrlich BrothersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt