Zuflucht

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„Paddy..?"
Verschlafen öffnet Maite ihrem älteren Bruder die Tür und reibt sich durch die Augen. Patrick sieht blass aus. Fast schon so, als würde er jeden Moment umkippen.
„Was machst du hier?",harkt sie nach. Es ist früh am Morgen. Die Sonne ist noch nicht einmal am Himmel zu sehen, bemalt diesen aber schon mit ihren orangenen Farben und tunkt die Welt in ein unheimlich weiches Tuch von Sommergefühlen.
„Darf ich reinkommen?"
Maite mustert ihn, nickt dann aber und tritt beiseite, um ihn hineinzulassen. Wie selbstverständlich streift Patrick seine Schuhe ab und zieht die dünne Jacke aus, die er sich eilig mitgenommen hatte.

„Setz dich ruhig. Möchtest du etwas trinken? Kaffee?"
Abwartend steht sie in der offenen Küche, die direkt an das Wohnzimmer grenzt. Patrick lässt sich seufzend auf dem Sofa nieder und schüttelt den Kopf, weshalb Maite zu ihm geht.
„Damit habe ich mich schon die ganze Nacht wachgehalten.",gibt er zu und stützt seine Ellbogen auf die Knie, um seinen Kopf in seine Hände stützen zu können.
„Habe ich dich geweckt?"
Maite blickt zur Uhr.
„Naja, es ist kurz vor sechs und die Kinder sind bei Florent. Also ja.",erwidert sie, klingt dabei aber keineswegs vorwerfend.
„Sorry, ich wusste nicht wohin mit mir.",gibt Patrick zu und lehnt sich in dem weichen Sofa zurück.
„Was ist passiert? Du siehst echt fertig aus."
Er nickt. Das hatte er in der Raststätte auch festgestellt, als er in den Spiegel blickte.

„Ich kam vom Konzert gestern Abend zurück nachhause und habe mich schon nicht gut gefühlt. Jimmy hat in der Küche auf mich gewartet und wollte unbedingt mit mir reden. Erst ist die Situation ein wenig eskaliert, doch dann haben wir in Ruhe gesprochen und sind dann ins Bett gegangen..",fängt er an zu erzählen, blickt dabei aber stets auf den kleinen Glastisch, der vor dem Sofa seinen Platz findet und den Raum, wie Patrick findet, noch moderner wirken lässt.
„Und warum bist du hier?"
Patrick seufzt. Er kann nicht noch Maite von den Träumen erzählen.
„Ich wurde eine knappe Stunde danach wieder wach und habe erneut mit Jimmy gesprochen. Im Nachhinein habe ich den Gedanken aber irgendwie nicht ausgehalten. Ich musste da einfach raus.
Patricia hätte mich sofort verraten und zu Joey war es mir zu weit. Bis nach Irland zu Angelo oder Spanien zu Kathy, Barby und John erstrecht.",erklärt er sich und schaut zu seiner kleinen Schwester, die ihn ruhig anschaut und zuhört.
„Du weißt, dass du hier immer willkommen bist, aber das kannst du wirklich nicht bringen. Jimmy macht sich unheimliche Sorgen, wenn er aufwacht und du einfach weg bist. Er wird uns zuerst abklingeln."
Noch immer klingt Maite ruhig. Sie möchte ihrem Bruder keinerlei Vorwürfe machen, ihm lediglich ein wenig ins Gewissen reden.
„I know but.. Ach keine Ahnung. Es ist einfach etwas anderes als damals."
Maite nickt, während Patrick seinen Blick wieder auf den Tisch richtet und seufzt.
„Die beiden steigern sich zu sehr da rein.",bricht sie leise die Stille, die zwischen den Geschwister herrscht.
„Warum tust du es nicht? Du hast mich damals doch auch erlebt."
Maite fängt seinen Blick auf. Seine Augen sind in ein tiefes blau getränkt. Tiefer, als es normalerweise zu sein scheint. Er ist müde. Mit seiner Kraft am Ende.
„Wie du sagtest. Es ist etwas anderes als damals."

Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf Patricks Lippen. Er ist froh. Froh darüber, dass sein Weg ihn zu Maite geführt hatte. Hier muss er sich wenigstens keine Vorwürfe anhören und wird einfach akzeptiert.
„Du solltest dich hinlegen. Du siehst wirklich nicht gut aus."
Maite unterbricht den Blickkontakt und steht auf.
„Ich bin die Schönheit in Person!",witzelt Patrick und schaut grinsend zu seiner Schwester hinauf. Schmunzelnd wuschelt sie ihm durch die Haare.
„Jaja, Bruderherz!"
Sie reicht ihm ihre Hand, an der Patrick sich hochzieht und seiner Schwester in den Flur folgt, um seine Tasche zu holen.
„Im Gästezimmer sollte noch alles auf dem Bett liegen. Ich lege mich auch nochmal hin. Komm bitte zu mir, falls etwas sein sollte."
Patrick nickt mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, bevor er Maite in eine feste Umarmung zieht. Etwas überrumpelt erwidert sie diese.
„You're an angel.",flüstert er.
Maite lächelt ebenfalls, während sie ihrem großen Bruder liebevoll über den Rücken streicht, bis er sich von selbst löst. Lächelnd geht er die Treppe hinauf und verzieht sich, ohne ein weiteres Mal nach unten zu schauen, in das Gästezimmer. Maite schaut ihm nach, bevor auch sie in ihr Schlafzimmer geht, welches sich im Erdgeschoss des Hauses befindet.

Schlafen wird sie wahrscheinlich nicht mehr können, aber sie möchte Patrick nicht das Gefühl geben, dass er daran Schuld sei. Sie hilft gerne. Obwohl sie weiß, dass sie Jimmy Bescheid geben muss. Sie muss mit ihm darüber reden, denn Patrick kann es nicht und scheinbar belastet ihn die momentane Situation sehr. Es ist seltsam für sie, als kleine Schwester, zu sehen, wie Patrick auf sie angewiesen ist. Sie hat schon bei Patricia gemerkt, dass ihm momentan deutlich der Halt fehlt und er nach einer Person sucht, der er so vertrauen kann, wie er es bei Joelle konnte. Für Maite war dies früher Patrick. Nicht selten wurde sie Opfer von Beleidigung, auch innerhalb der Familie. Patrick hatte sich in solchen Situationen immer schützend vor sie gestellt und versucht, seine kleine Schwester weitestgehend zu schützen. Schon in ihrer Jugend hatten die beiden ein besonderes Verhältnis zueinander, welches auch anhielt, bis Joelle starb und Patrick sich zurückzog. Patrick und Maite sind schließlich die einzigen, die ihre Solokarriere vor die der Kelly Family stellen und auch dies löste in der Vergangenheit einen heftigen Streit unter den Geschwistern aus, durch welchen die beiden aber nur noch mehr zueinander fanden.
Maite seufzt, während sie sich in ihr Bett fallen lässt und ihr Handy zur Hand nimmt. Sie tippt eine kurze Nachricht an Jimmy und versichert ihm, dass es Patrick gut ginge, er aber einen Moment Abstand bräuchte. Jimmy hat sein Handy aus. Die Nachricht kommt nur mit einem Harken an und trotzdem fühlt es sich an, als würde eine Last von ihren Schultern fallen. Sie kann Patrick nicht einfach verstecken, während ihre anderen Geschwister wahrscheinlich krank vor Sorge werden würden.

Patrick sitzt derweil im Bett und starrt schon regelrecht aus dem Fenster. Der Rollo ist nicht ganz unten, sodass vereinzelte Sonnenstrahlen ihren Weg in das Zimmer finden. Selbst Maites Gästezimmer ist liebevoll eingerichtet, sodass man sich nur wohlfühlen kann. Patricks Handy liegt schon lange ausgeschaltet in seiner Tasche. Er möchte Jimmy wirklich nicht erklären, warum er schon förmlich aus seinem eigenen Haus geflüchtet ist. Wenn er so darüber nachdenkt, ist sein Verhalten wohl auch nicht zu erklären. Er hat sich bedrängt gefühlt. Bedrängt davon zu wissen, dass Jimmy mehr über ihn weiß. Mehr darüber, was in seinem inneren los ist. Er kann eins und eins zusammenzählen. Jimmy wird darauf kommen, dass eben so ein Traum auch für den Zusammenbruch bei Patricia zuständig war. Er seufzt und fährt sich durch sein müdes Gesicht, bevor er sich unter die Decke legt und auf die Seite dreht, damit die Sonnenstrahlen ihn nicht stören. Entgegen seiner Erwartung, findet er tatsächlich noch ein wenig zur Ruhe. Er weiß, dass er bei Maite sicher ist. Sie setzt sich für ihn ein, wie er damals für sie.

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt