Wie in Trance ziehen die nächsten und somit auch letzten Minuten des Konzerts an Patrick vorbei. Seine Schwester, die noch immer mit ihren Tränen zu kämpfen hat und sich für die Tour bedankt. Der Applaus. Das Alles scheint gerade so unglaublich leise zu sein. So leise, dass es Patrick schon fast ein wenig Angst macht.
„Alles okay bei euch?", dringt die Stimme von Patricia zu ihm heran, doch auch sie klingt leise, zu weit weg. Zu weit weg, um darauf eine passende Antwort zu finden. Ist alles okay? Eigentlich ist es das. Alles ist okay, Nichts ist okay und es ist ganz viel, was dort zwischen ruht und keine Antwort auf diese einfache Frage zuzulassen scheint. Zu viel. Zu viel, um das weitere Gespräch seiner Geschwister zu verfolgen. Zu viel, um seine Beine zum stehenbleiben zu zwingen. Zu viel, um seinen Geschwistern auch nur einen Moment von der Seite zu weichen.Eine letzte Träne drück sich aus seinem Augenwinkel, als er sich schon fast wie ferngesteuert neben Patricia auf dem kleinen Sofa in Maites Garderobe niederlässt. Eine Träne, die eine unglaublich warme Spur auf seiner Wange hinterlässt und an seinem Kinn einfach ins nichts verlaufen zu scheint.
„Alles okay, Kleiner?", bricht Joey vorsichtig die Stille, der neben Jimmy an der Fensterbank steht und seinen kleinen Bruder mustert. Patrick fährt sich durch die Haare und atmet hörbar aus, ehe er seinen Blick zu seinem Bruder richtet. Schon wieder diese Frage. Diese Frage, auf die er keine Antwort geben kann. Stumm schauen die beiden sich in die Augen. Joey ist sonst nie der Typ in der Familie, der solch unangenehme Fragen stellt. Fragen, die ohnehin keine ehrliche Antwort bekommen werden.
„Nenn mich nicht Kleiner.", gibt Patrick schließlich nur mit einem Schmunzeln auf den Lippen zurück und richtet seinen Blick wieder vor sich auf den Boden, ehe sein Bruder noch weiter nachhaken kann.
„Wir haben das eben wieder gut in den Griff bekommen.", fügt Jimmy hinzu und blickt dabei zu Patrick, der seinen Blick auch wieder auf seine beiden Brüder richtet. Gut in den Griff bekommen? Patrick hat sich ein weiteres mal vor der Situation versteckt, nicht einmal daran gedacht wieder diese Halle zu betreten, wieder zu dem Rest seiner Geschwister zu gehen und sich das restliche Konzert von dort aus anzusehen.
„Ich glaube wir haben verschiedene Auffassungen von 'gut in den Griff bekommen'.", erwidert Patrick und merkt, wie seine Stimme eher einem Flüstern gleicht. Eine unangenehme Stille kehrt zwischen den Geschwistern ein und als Patrick keine Antwort mehr auf seine Aussage erwartet, richtet sich sein Blick wieder zu Boden. Selbst das leise Räuspern von Joey, in der Hoffnung jemand würde die Stille wieder brechen, findet keinen Halt in dem Raum, der gerade wohl nicht hätte kleiner scheinen können. Der jeden einzelnen der vier Geschwister dazu zwingt, sich einen kurzen Moment mit der Realität auseinanderzusetzen.„Ich will in aller Ruhe duschen und dann..", Maite bricht ab, als sie ihre Garderobe betritt und ihr sofort die acht bekannten Augen ihrer Geschwister entgegenblicken.
„In aller Ruhe wird schwer.", schmunzelt Joey und ist sichtlich erleichtert, dass er nicht länger dieser unangenehmen Stille ausgeliefert ist. Auch Patrick atmet erleichtert durch und blickt an Patricia hinauf, die aufsteht um ihre kleine Schwester in eine herzige Umarmung zu ziehen.
„Was macht ihr denn hier?", hakt Maite erstaunt nach, während sie sich von ihrer Schwester löst und ihren Blick in die Runde gleiten lässt. So lange, bis dieser förmlich an Patrick kleben bleibt. Hilfesuchend lässt Patrick seinen Blick zu Jimmy hinauf gleiten. Er selbst kann sich nicht erklären, keine Antwort auf diese Frage geben und schon gar nicht den Blick seiner kleinen Schwester erwidern oder diesem gar standhalten.
„Abschlusskonzert, meine Liebe. Da ist unser Besuch doch vorprogrammiert.", beantwortet Jimmy schließlich lächelnd die Frage seiner kleinen Schwester, bleibt jedoch an der Fensterbank stehen. Patrick fühlt sich währenddessen mehr als fehl am Platz. Während für seine Geschwister das Leben einfach so weiter gelaufen ist, ihre Welt sich weiter dreht, steht es für ihn Still. Seine Welt dreht sich nicht weiter und auch sein Leben scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Seit dieser Nacht, die innerhalb von Sekunden seine Welt aus der Bahn geworfen hat.Erst durch die zufallende Tür wird Patrick wieder in die Realität gerissen und blick zu seiner kleinen Schwester, die sich nun neben ihm auf dem Sofa niederlässt.
„Dein Kopf ist gerade vollkommen woanders, oder?", fragt sie leise und blickt ihn von der Seite an, während er seinen Blick durch den Raum gleiten lässt. Seine restlichen Geschwister sind weg, haben ihn alleine bei Maite gelassen. Alleine bei seinem Anker im Sturm und auch jetzt strahlt sie diese unglaubliche Ruhe aus, die Patrick zum durchatmen zwingt. Maite hat ihn in seinem schwächsten Moment gesehen. Dort oben, über den Dächern von Köln aber auch die ersten Minuten hinter den bekannten Mauern der Klinik. Er braucht seine Schwäche ihr gegenüber nicht zu verstecken, sondern kann stark sein. Stark sein und somit seine Schwäche bewusst zulassen.
„Scheint so, ja.", entgegnet er ebenso leise und fährt sich seufzend durch seine viel zu langen Haare, ehe er sich an die Sofalehne fallen lässt und seine Arme vor seiner Brust verschränkt. Noch immer ruht der Blick seiner kleinen Schwester auf ihm. Er sieht besser aus, fitter. Seine Augen wirken nicht mehr so trüb wie in der Nacht auf dem Hochhaus und doch weiß Maite, dass noch ein langer Weg vor ihrem Bruder liegt. Ein langer und steiniger Weg. Ein Weg voller Rückschläge, Trauer, Wut, ebenso aber auch ein Weg voller Besserung.„Hast du genug aus meinen Augen gelesen?", bricht er schmunzelnd die Stille, was auch Maite ein Lächeln auf die Lippen zaubert.
„Ich habe dich vermisst."
Patrick schluckt, bevor Stille zwischen den beiden einkehrt. Er weiß, dass seine Schwester mit diesem Satz nicht nur die letzten Wochen meint, in denen die beiden sich nicht gesehen haben. Viel mehr ist mit diesem Satz die ganze Zeit nach Joelles Tod gemeint. Die Zeit, in der Patrick sein wahres ich förmlich in einen Käfig aus Gedanken, Gefühlen und einer unglaublichen Kälte gesperrt hat. Die Zeit, in der er sich immer weiter zurückzog, sein Lachen und seine Witze verschwanden und zum Schluss schließlich alles in diesem Käfig gefangen war. Dieser Käfig, dem Patrick nun wieder Stück für Stück zu entfliehen versucht. Mit allem, was zu diesem schweren Schritt dazu gehört.
„Ich habe das Gefühl dich in den Arm nehmen zu wollen."
„Komm schon her, du Idiot.", erwidert seine kleine Schwester lachend und nimmt Patrick in den Arm. Eine einfache Umarmung, die so vieles mehr in diesem kleinen Moment ausdrückt. Sie ist ein Diamant im Trümmerhaufen, ein guter Moment unter den vielen schlechten. Patrick drückt seine Schwester noch ein wenig mehr an sich, ehe sich eine Träne aus seinem Augenwinkel löst und an ihrem Hals zum ruhen kommt. Eine Träne der Erleichterung.
„Hör auf, sonst muss ich auch weinen.", schmunzelt Maite, ehe sie ihm beruhigend über den Rücken streicht und schließlich zulässt, dass Patrick sich von ihr löst.
„Sorry.", bringt er bloß leise über die Lippen, während sein Handrücken wie von selbst eine Tränen von seiner Wange wischt, bevor er sich wieder nach hinten fallen lässt. Verfolgt von Maites Blick. Sie ist froh, dass ihr Bruder hier ist.„Ich will dich nicht abschieben, aber ich würde wirklich gerne unter die Dusche, bevor ich euch zum Essen entführe. Soll ich Jimmy holen?"
Sofort schüttelt Patrick mit dem Kopf. Auf eine erzwungene Unterhaltung mit seinem Bruder hat er nun wirklich keine Lust.
„Kann ich mit Maria sprechen?", noch bevor Patrick über seine Frage nachdenken kann, verlässt diese auch schon seinen Mund. Kann er das? Würde es ihm etwas bringen zu erfahren, warum weder Maite noch sie bei ihrer Begegnung die Vergangenheit erwähnt haben?
„Ähm...klar. Sie ist wahrscheinlich im Gemeinschaftsraum."
Patrick nickt bloß, ehe er sich von dem Sofa hoch drückt und für einen kurzen Moment unbeholfen in dem Raum stehen bleibt, der plötzlich die Enge von vorhin wieder erlangt.
„Du musst das nicht, das weißt du?", Maites Stimme klingt unsicher, während auch sie aufsteht und ihre Hand auf die Schulter ihres Bruders legt.
„Was soll ich sonst tun? Dich fragen? Würdest du mir eine Antwort darauf geben, warum ihr nichts gesagt habt?", hakt er ein wenig aufbrausender nach, während er sich wieder zu Maite umdreht und ihr in die Augen blickt.
„Das würde ich, ja.", antwortet Maite ruhig. Patrick richtet seinen Blick auf den Boden.
„Gehen wir zusammen zu ihr?", fragt er ebenfalls ruhig nach, während er sich wieder auf dem Sofa niederlässt und zu seiner Schwester hinaufblickt, die bloß lächelnd nickt. Alleine bei dem Gedanken, Maria wieder alleine und vollkommen ahnungslos, überfordert gegenüberzustehen, bildet sich eine Enge in seiner Brust, die wohl selbst mit der Enge des Raumes nicht vergleichbar zu sein scheint.
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Gegen den Verstand
Fanfiction„Wenn wir uns an dem Ort treffen, an dem wir uns kennengelernt haben, du mich aber nicht siehst, tue mir bitte einen Gefallen. Lass die Vergangenheit endlich los.." Triggerwarnung: In dieser Geschichte werden Themen behandelt, die für Menschen in p...