Was ändert es?

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„Ich habe mit Maite über die Nacht gesprochen und ihr die Wahrheit gesagt."

Langsam hebt Thomas seinen Blick von seinem Computer und schaut zu Patrick, der ihm, mit starrem Blick auf den Boden, auf der anderen Seite des Schreibtisches gegenübersitzt. Die letzte Nacht steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und doch kommt er nicht einmal in die Versuchung auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Viel lieber möchte er die letzte Nacht in die Tiefen seines Kopfes verbannen und so tun als wäre nichts passiert. Sich weiter belügen, bis er sich diese Lüge abkauft. Solange, bis er seine heile Welt repräsentieren kann.
„Und das ändert was?", bricht Thomas erneut die entstandene Stille, in der er Patrick stumm gemustert hat. Was ändert es? Patrick zuckt mit den Schultern, lässt seinen Blick aber auf dem Boden ruhen. Wahrscheinlich ändert es nicht das geringste. Es macht es weder leichter diese Nacht zu verarbeiten, noch nimmt es die Schuld von seinen Schultern. Es war einzig und allein ein Schritt in die richtige Richtung, der zum Aufbau seiner heilen Welt unabdinglich ist. Er muss mit seinen Geschwistern über seine Gedanken und Gefühle sprechen können, sich ihnen öffnen und auf Verständnis hoffen. Doch wie soll er dies bei seinen Geschwistern schaffen, wenn er sich nicht einmal Thomas gegenüber öffnen kann, oder will? Wenn er es nicht einmal schafft, sich in der Sicherheit der Klinikmauern damit auseinanderzusetzen, es zuzulassen? Die Wahrheit. Es ändert gar nichts. Nicht das geringste.

„Kann ich gehen?", bringt Patrick gerade so über seine Lippen, ehe sich eine Träne aus seinem Augenwinkel drückt und somit seine innere Überforderung nach außen zum Ausdruck bringt. Zögernd hebt er den Blick und schaut zu Thomas, der seinen Blick bereits wieder auf seinen Computer richtet.
„Nein.", antwortet er schließlich leiser, während er konzentriert etwas in den Computer eintippt. Das Klacken der Tasten scheint förmlich in Patricks Kopf widerzuhallen und nimmt so eine Lautstärke an, die schon fast unerträglich ist. Unbemerkt atmet er einmal tief durch, ehe er seinen Blick auf seine Füße richtet. Sein kompletter Körper scheint ihm vollkommen fremd zu sein und nicht zu dem zu gehören, was in seinem Kopf vor sich geht. Wer ist er? Der Rockstar, der seine scheinheilige Welt auf der Bühne repräsentiert wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Er ist wieder der kleine Bruder, der auf die Hilfe seiner Geschwister angewiesen ist. So klein, dass er selbstständig nicht einmal mehr leben könnte. Seufzend lehnt Thomas sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und lässt seinen Blick wieder zu Patrick gleiten. Noch immer drücken sich vereinzelte, stumme Tränen aus seinen Augenwinkeln hervor und rinnen seine blassen Wangen hinab.
„Patrick, was ändert es?", hakt Thomas erneut nach, während er seine Arme vor seiner Brust verschränkt und seinen Blick ruhig auf Patrick ruhen lässt.
„Gar nichts.", flüstert er unter Tränen, bevor er sich mit seinem Handrücken die Tränen von den Wangen streicht. Thomas nickt langsam. Er weiß, dass Patrick aus einer anderen Intention mit seiner Schwester über diese Nacht gesprochen hat.

„Lass uns rausgehen.", sagt Thomas plötzlich, während er mit seinen flachen Händen auf seine Oberschenkel schlägt und aufsteht. Irritiert schaut Patrick zu ihm hinauf und verfolgt mit seinem Blick, wie er sich seine Jacke überzieht.
„Das war mein Ernst. Komm schon, auf geht's.", auf Thomas Lippen schleicht sich ein leichtes Lächeln, bevor er aussagekräftig die Tür zu seinem Büro aufhält und Patrick auf den Flur folgt. Auch Patrick zieht sich seine Jacke über, ehe sie zusammen die Klinik verlassen und so auch die beengten Mauern von dieser hinter sich lassen. Ein wenig erleichtert atmet Patrick die kühle Luft ein und spürt, wie auch seine Tränen ihren Weg über seine Wangen aufgeben. Ein wenig unsicher setzt er einen Fuß vor den anderen, während er stumm neben Thomas herläuft. Dieser steuert geradewegs auf den angrenzenden Park des kleinen, ruhigen Stadtteils zu. Patrick lässt seine Hände unauffällig in seine Jackentaschen gleiten, während sein Blick sich auf den Weg vor ihm richtet. Die Bäume haben bereits ihre bunten Blätter fast vollends abgeworfen und spiegeln nun auch das Grau wider, das sich auch auf alles andere gelegt hat. Das Grau, das sich auf alles gelegt hat, das auch nur im entferntesten Sinne etwas mit dieser viel zu lauten Welt zu tun hat.
„Was wird das?", fragt Patrick nach ein paar weiteren Metern nach, blickt aber nicht zu Thomas. Auch er hat seine Hände in seinen Jackentaschen vergraben, um diese nicht der bitteren Kälte aussetzen zu müssen, die zu dem Grau noch hinzukommt.
„Ich merke dir an, wenn dich etwas zu sehr bedrängt.", gibt Thomas lediglich zurück.
„Scheinbar nicht, sonst wärst du nicht mitgekommen.", erwidert Patrick monoton, während er einen Stein weg kickt und mit seinem Blick verfolgt, wo dieser wieder zum Landen kommt.
„Den Druck kann ich dir leider nicht rausnehmen.", schmunzelt Thomas als Antwort, bevor auch er den Stein mit seinem Blick verfolgt. Es wird still zwischen den beiden und bloß das Geräusch von dem Matsch unter ihren Füßen ist bei jedem Schritt zu hören.

„Hör zu, ich sage dir das jetzt nicht aus meinem Therapeuten Mund, sondern lediglich auf freundschaftlicher Ebene, okay?", plötzlich ist der Ernst in Thomas Stimme wieder zu hören und Patrick spürt, dass er seinen Blick zu ihm richtet. Er nickt. Etwas anderes bleibt ihm nicht übrig. Er muss sich die Worte ein weiteres Mal anhören, die unverblümte Wahrheit aus Thomas Sicht.
„Ich möchte dir helfen, das möchte ich wirklich und das weißt du. Du weißt auch, dass du diese Hilfe brauchst, auch wenn du es dir vielleicht nicht eingestehen und auch nicht wahrhaben möchtest. Paddy, wir haben so viele Fortschritte gemacht, du hast dich mir anvertraut, mir aus eigenen Stücken über diese Nacht, über deine Träume und über deine Gedanken erzählt. Du hast dich von schlechten Tagen nicht unterkriegen lassen, weil du weißt, dass sie genauso dazu gehören wie die guten. Du hast immer weiter gemacht und mir, aber vor allem dir gezeigt, dass du stark bist. Dass du das alles hinbekommen möchtest. Was ist am Wochenende mit dieser Einstellung passiert, wo hast du sie verloren?"
Patrick schluckt, während er in seiner Jackentasche nervös mit seinen Fingern spielt. Wo hat er sie verloren, oder hat er sich in dem Wochenende verloren?
„Und ich möchte die Wahrheit hören.", fügt Thomas seiner Frage noch hinzu, ehe er seinen Blick wieder von Patrick abwendet.
„Ich weiß es nicht... ich habe das Gefühl, dass ich gar nichts mehr weiß. Nicht mehr wer ich bin, wo ich hingehöre, wo ich hin möchte und ganz besonders nicht, wofür sich dieser Weg überhaupt lohnt. Thomas, ich habe mit Joelle alles in meinem Leben verloren, was ansatzweise einen hohen Stellenwert abgesehen von meiner Familie hatte. Ich weiß nicht für wen und für was ich weitermachen sollte, obwohl ich das gar nicht möchte. Ich möchte zu ihr, nicht für etwas kämpfen, was mich im Endeffekt nicht ansatzweise so glücklich machen kann, wie sie es konnte."
„Du weißt nicht, warum und für wen du das alles machst? Wie wäre es mit für dich? Für deine Familie, deine Freunde, deine Fans? Wie wäre es mit für Joelle. Und auch wenn ich kein Freund solcher Floskeln bin, hätte sie bestimmt nicht gewollt, dass du dein Leben so weiterlebst, wie du es gerade machst. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, das möchte ich gar nicht abstreiten oder schönreden, aber bitte lass dir helfen. Es ist scheiße, das ist es wirklich und ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen wie es dir mit diesem Verlust ergeht, aber ich kann dir da raus helfen und das möchte ich auch. Dir zeigen, dass du auf die schönen Erlebnisse mit ihr zurückblicken kannst und deinen Frieden mit der ganzen Sache schließt. Ich möchte nicht, dass du die Augen vor der Wahrheit verschließt, dir einredest, dass alles okay sei und es dir gut ginge. Aber dafür brauche ich deine Hilfe und deine Bereitschaft. Die Bereitschaft dazu, das alles wieder so anzugehen, wie wir es davor auch getan haben. Ich bin an deiner Seite und helfe dir. An den guten und auch an den schlechten Tagen. Deine Geschwister sind ebenfalls für dich da, auch wenn es dir unangenehm ist von ihnen Hilfe anzunehmen. Sie sind da, Paddy. Wir alle sind da und du wirst es auch bald wieder sein."

Patrick räuspert sich um etwas zu sagen, bringt schließlich aber nur ein Nicken hervor und stimmt somit etwas zu, von dem er noch nicht weiß, ob er es auch wirklich halten kann und will.

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt