Leben, nicht überleben

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Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles gar keine so große Rolle. Ein leichtes Lächeln ruht auf Patricks Lippen, während er seinen Blick aus dem bekannten Fenster in den Nachthimmel wirft. Auch der Mond hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt und doch leuchtet er so hell in die dunkle Nacht hinein, um sein Licht auf die Erde zu werfen. Um uns ein Licht in der Dunkelheit zu sein, etwas, zu dem wir hinaufschauen können. Etwas, das unseren Blick wieder von dem Boden löst und uns wieder einen Blick nach vorne schenkt, einen Grund weiter zu gehen und nicht stehen zu bleiben. Auch nicht in der Dunkelheit.
Erleichtert atmet Patrick aus, winkelt seine Beine auf der schmalen Fensterbank an, lehnt seinen Kopf gegen die Wand hinter sich und schließt für einen kurzen Moment die Augen. Selbst die Enge der Klinikmauern scheint gerade keinen Platz in ihm zu finden und es ist schon fast seltsam, dass es in seinem Kopf so leer ist. So leer und gleichzeitig doch so voller Gedanken, die gerade nur vorbeifliegen und keinerlei Halt finden. Erneut öffnet er seine Augen und lässt seinen Blick wieder aus dem Fenster gleiten. Das Lichtermeer Kölns, so weit entfernt und doch scheinen die vielen Lichter, das wahre Leben, so greifbar zu sein. Der Abend mit Christian, die Lichter der Stadt von dem Hoteldach aus. Greifbar und doch zu weit entfernt. Zu weit entfernt, um seinen Blick dorthin richten zu können. Zu weit entfernt, um ein Grund dafür zu sein, weiterzugehen. Weiter entfernt als der Mond. Patrick hatte sich am Wochenende bei keinem der Jungs gemeldet. Nach der Unterhaltung mit Yeshua hatte er sein Handy nicht einmal mehr angesehen, es auf dem Nachttisch liegen gelassen und wahrscheinlich findet es auch noch genau dort seinen Platz. Das wahre Leben. Das wahr Leben, in dem er auf der Bühne stehen, seinen Fans, den Jungs und sich selbst einen großartigen Abend bescheren sollte. Das wahre Leben, in dem er Musik machen, rausgehen und leben sollte. Leben, sich der Realität stellen und seine Leinwand endlich wieder so bunt bemalen, wie es die letzten Jahre auch der Fall war. Eine stumme Träne drückt sich aus seinem Augenwinkel, die er mit einem Lächeln auf den Lippen von seiner Wange streicht. Das erste mal keimt in ihm wieder ein wirklicher Wille auf. Musik. Neue Lieder schreiben, ein Album produzieren, auf Tour gehen. Bestätigung von seinen Fans bekommen, verdrängen.

„Paddy?", wie ferngesteuert lässt Patrick seinen Blick zu der Tür gleiten und schaut in Thomas Augen, die ihn abschätzend zu mustern scheinen.
„Auf ein Wort?", fügt er hinzu und lässt sich auf Patricks Bett nieder, als dieser nickt. Auch Patrick nimmt seine Beine von der Fensterbank und lässt sie an der Wand hinunter hängen, um sich mit seinem Rücken an die kalte Fensterscheibe lehnen zu können.
„Du hast heute keine Nachtschicht, was machst du noch hier?", hakt Patrick ein wenig leiser nach und wischt sich erneut mit seiner Hand über sein Gesicht, um die letzten Anzeichen der Tränen von seinen Wangen zu wischen.
„Du weißt, dass ich dir kein Wort abkaufe."
Irritiert zieht Patrick seine Augenbrauen zusammen und lässt seine Hände unter seine Oberschenkel gleiten, um Thomas mit ihnen kein Anzeichen auf sein Unwohlsein geben zu können.
„Was meinst du?"
„Das Gespräch mit Jimmy heute Nachmittag. Du kannst mir viel erzählen, wenn der Tag lang ist, aber ich kenne dich mittlerweile und merke dir an, wenn du mir nicht die Wahrheit erzählst."
Patrick seufzt und lässt seinen Blick auf den Boden gleiten. Er möchte hier raus, schnellstmöglich und er weiß, dass dafür eine gewisse Mitarbeit und Überwindung
seinerseits nötig sein wird.
„Jimmy hat dazu schon alles gesagt.", gibt er lediglich zurück, lässt seinen Blick aber auf dem Boden ruhen.
„Ich glaube euch auch, dass es nur zu den Vorfällen auf dem Konzert und im Bad gekommen ist. Was ich dir allerdings nicht glaube, ist deine Einstellung dazu und schon gar nicht, dass du nur aus Überforderung auf den Spiegel eingeschlagen hast.", erwidert Thomas ruhig, während er sein linkes Bein über sein rechtes schlägt und seine Hände in seinen Schoß legt.
„Bin ich gerade verpflichtet dir darauf zu antworten?", erst jetzt hebt Patrick seinen Blick wieder und schaut zu Thomas, der seinen Kopfschüttelt.
„Sowieso nie, aber für den 'Aufbau' deiner heilen Welt wäre eine Antwort ganz sinnvoll."
Ein wenig ertappt lässt Patrick seinen Blick sinken und drückt sich von der Fensterbank hinunter, um sich mit dem Rücken an diese lehnen und seine Arme vor seiner Brust verschränken zu können.
„Was möchtest du von mir hören?",nuschelt er, während er den Blick von Thomas deutlich auf sich spürt.
„Die Wahrheit."
„Worüber?", hakt Patrick sofort nach und spürt, wie eine gewisse Unruhe in ihm aufsteigt. Sein Plan, das alles kann durch Thomas zum Fall gebracht werden.
„Darüber, was du mit diesem Wochenende bezwecken wolltest, was in dir vorging und vor allem darüber, was du in deinem Kopf geplant hast zu tun, wenn ich dich hier raus lasse. Alleine.", entgegnet Thomas mit so viel Ernst in seiner Stimme, dass diese Patrick eine Gänsehaut verschafft.
Patrick bleibt still. Jedes seiner Worte würde die Situation nicht besser machen und schon gar nicht entschärfen.
„Du trägst so viel Selbsthass in dir.", bricht Thomas nach einer Weile die Stille und fängt nun Patricks Blick auf, dessen Augen förmlich zu funkeln scheinen.
„Du hast nicht im geringsten eine Ahnung davon. Davon, wie ich mich fühle, wie ich damit umgehe, was ich vor habe. Was ich mit diesem Wochenende bezwecken wollte? Leben, meine Geschwister sehen, mich mit dem Alltag konfrontieren? Such dir meinetwegen etwas aus.", unfreiwillig wird Patricks Stimme ein wenig aufbrausender und er versucht dem Blick von Thomas standzuhalten, was er jedoch nach weniger als 10 Sekunden aufgibt und wieder zu Boden blickt. Am liebsten würde er Thomas gerade vor die Tür setzen, diese aussagekräftig vor seiner Nase zuknallen und nie wieder öffnen.
„Ich habe keine Ahnung wie du damit umgehst? Ich sehe dich hier Tag für Tag damit kämpfen, dir die Schuld geben und versuchen das alles zu verdrängen, bis es später mit doppelter Kraft zurückschlägt und du dich dagegen nicht wehren kannst. Und wir kommen nicht weiter, wenn du ständig diese Schläge in kauf nimmst."

„Du verstehst mich? Dann solltest du auch verstehen wie schwierig es ist in den Spiegel zu blicken, mich in der Spiegelung zu sehen und dabei einfach nur Hass zu empfinden! Ich will einfach hier raus, mein Leben wieder auf die Reihe bekommen, Musik machen und das alles abschließen können!", schon fast verzweifelt lässt Patrick sich an der Wand hinuntergleiten und legt seinen Kopf in seine Hände. Der Wille, den Aufbau seiner heilen Welt vor Thomas zu schützen, verfällt förmlich zu Staub. Thomas kennt ihn. Es wird nicht so einfach sein ihn davon zu überzeugen, dass Patrick wirklich alleine klar kommt.
„Und genau dafür brauchst du diese Zeit. Würde ich dich jetzt alleine Nachhause fahren lassen würdest du, wenn du dort überhaupt ankommen solltest, dich in die Musik stürzen, wieder auf Tour gehen und all deine Gedanken verdrängen. Merkst du etwas? Genau aus dieser Situation versuchst du gerade herauszukommen. Wieso stellst du dich plötzlich quer?", Thomas fängt Patricks Blick auf, in dessen Augen sich bereits ein paar Tränen gesammelt haben und nur darauf warten seine Wangen erkunden zu können. Seine blassen, kalten Wangen.
„Ich kann das Thomas, wirklich.", bringt er mit seiner zugeschnürten Kehle gerade so heraus und sieht bittend zu Thomas, der bloß mit seinem Kopf schüttelt und auch sein linkes Bein wieder auf den Boden stellt, um seine Ellbogen auf seinem Oberschenkel abstützen zukönnen.
„Ich lasse dich nicht gehen und dich somit in den sicheren Tod laufen. Ich möchte, dass du mitarbeitest, ehrlich bist. Niemand hier verurteilt dich für deine Gedanken oder für Momente, in denen du selbst nicht mit dir klarkommst. Dafür bist du hier und dafür bin auch ich hier, okay? Deine heile Welt sollte wirklich heil sein und nicht aus Wunden bestehen, die sporadisch durch Klebeband und Verdrängung geflickt wurden. Du sollst leben, nicht überleben."

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt