Loslassen

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Leise seufzend lehnt Patrick seinen Kopf gegen die Wand hinter sich und schließt seine Augen, während seine Finger automatisch über die Saiten der Gitarre streichen und so leise Töne erzeugen. Sein Kopf ist voller Gedanken und doch viel zu leer. Viel zu leer, um die Geschehnisse letzter Nacht zu begreifen. Das offene Gespräch mit Thomas, die Bilder in seinem Kopf, sein emotionaler Zusammenbruch. Das alles scheint zu weit weg um es zu erfassen und doch hat Patrick das Gefühl nicht weit genug rennen zu können, um den nötigen Abstand zu gewinnen. Abstand. Das, wonach er sich momentan wohl am meisten sehnt. Abstand, um alles wieder in die hinterste Ecke seines Kopfes zu verbannen, weiterzumachen. So zu tun, als ginge es ihm gut und als bräuchte er keine Hilfe. Keine Hilfe, um diese Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen.
Eine warme Träne presst sich aus seinem geschlossenen Auge und rinnt seine Wange hinab, nur um an seinem Kinn abzuperlen. Er nimmt es hin. Sich gegen seine Gefühle aufspielen und dagegen ankämpfen macht die Situation auch nicht leichter. Schon gar nicht greifbarer.
Was war passiert? Warum wurde ihm plötzlich alles zu viel, wo er doch all die Gedanken zuvor verdrängt hatte? Mehr oder weniger erfolgreich sogar. Wieso hatte er sich Thomas geöffnet und ihm alles erzählt? Das erzählt, was wohl nur zwei Menschen auf diesem Planeten wissen. Die Wahrheit. Die Wahrheit über diese eine Nacht, die innerhalb von Sekunden sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat und es seitdem auch nicht mehr in die richtige Position lässt.

„Hier steckst du also."
Patrick zuckt heftig zusammen und entlockt der Gitarre somit einige schiefe Töne, ehe er zu Thomas aufblickt, der mit verschränkten Armen an der Tür zu dem kleinen Musikraum steht.
„Ich suche dich seit einer halben Stunde."
Patrick blickt Thomas bloß stumm an. Er weiß, dass er sich in diesem Moment eigentlich in seinem Büro einem Gespräch stellen müsste. Einem Gespräch darüber, was er letzte Nacht gefühlt hat, wie es ihm dabei erging und genau deshalb sitzt er nun hier am Boden und nicht in einem der bequemen Sessel bei ihm im Büro.
Kurz herrscht eine erdrückende Stille, ehe Thomas ein paar Schritte auf Patrick zu geht, sich zu ihm hinunterhockt und seine Hand ausstreckt:„Den Schlüssel bitte."
„Sorry..",erwidert Patrick fast tonlos, ehe er neben sich greift und den kleinen Schlüsselbund in Thomas Hand legt.
Patrick wendet seinen Blick ab. Er weiß, dass in solchen Hinsichten nicht mit Thomas zu Spaßen ist. Dieser richtet sich lediglich langsam auf und lässt den Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden, bevor er sich auf dem kleinen Sofa niederlässt, das gegenüber von Patrick an der Wand seinen Platz findet.
„Ich frage dich lieber nicht wo du den Schlüssel her hast."
Thomas Worte klingen nicht verärgert, lediglich ein wenig bestimmender. Patrick schüttelt stumm den Kopf. Die Schlüssel hätte er sich wirklich nicht nehmen dürfen.
Wieder wird es still in dem Raum. Patrick seufzt. Er erträgt diese erdrückende Stille nicht und weiß sie gleichzeitig nicht ansatzweise zu brechen, weshalb er stumm bleibt und die Gitarre neben sich auf den Boden legt.

„Warum bist du hier?"
Er zuckt mit den Schulter und doch weiß er, dass Thomas diese Antwort nicht durchgehen lassen wird.
„Ich brauchte kurz meine Zeit."
Verstehend nickt Thomas. Er weiß, dass dieses verstecken nicht im geringsten etwas mit "Zeit brauchen" zu tun hat. Es ist vielmehr ein Versteckspiel. Ein Versteckspiel vor ihm selbst, vor seinen Gedanken und nicht zuletzt vor all dem, das noch tief in seinem Inneren schlummert.
„Wir müssen darüber reden, oder?"
Patricks Stimme ist noch immer leise, fast schon zittrig.
Wieder nickt Thomas. Um dieses Gespräch führt nun wohl kein Weg herum.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht was letzte Nacht los war.. ich meine.. i..ich..-"
„Hey, du musst dich hier für gar nichts rechtfertigen.",unterbricht Thomas ihn sofort und sieht Patrick beruhigend an, der ihm bloß dankbar zu nickt.
„Es war nur eine Frage der Zeit bis so etwas passiert. Patrick, du hast nie getrauert, alles in dich hineingefressen und so eine dunkle Seite gefüttert, die sich immer und immer weiter in deine Gedanken vor gefressen und dir Vorwürfe gemacht hat. Auf Dauer kann man damit nicht umgehen, kein Mensch kann das."
Patrick lässt sich seine Worte auf der Zunge zergehen. Hat Thomas recht? War es wirklich der falsche Weg seine Schutzmauer hochzuziehen und niemanden hinter die Kulissen blicken zu lassen?
„Ich konnte es.",erwidert Patrick und lässt seinen Blick auf seine Hände gleiten, die nervös miteinander spielen.
„Du konntest es? Du hast nicht in jeder Sekunde an sie gedacht, dich leer und unvollkommen gefühlt? Du hast es dir nicht anmerken lassen? Du standest nicht da oben und wolltest dir etwas antun?"

Ein großer Kloß bildet sich in Patricks Hals. Er konnte es nicht und er wird es auch nie können. Sein Inneres beginnt gegen ihn zu arbeiten. Wieso hat er sich dauerhaft angelogen. Sich selbst gesagt, dass alles gut sei. Wieso hat er nicht einfach darüber gesprochen, die Wahrheit gesagt?
„Patrick, hör auf dich zu belügen. Du bist hier, du brauchst Hilfe und nein, das ist absolut nicht schlimm.",durchbricht Thomas seine Gedanken. Patrick spürt seine Tränen über die Wangen laufen. Jede einzelne Träne, die wohl ein Zeichen des inneren Schmerzes ist, der in ihm ruht und fest verankert dort seinen Platz bewahrt.
„Ich habe es doch auch die letzten Monate geschafft.",flüstert Patrick gebrochen, ehe er seinen Kopf in seinen Handflächen vergräbt und seine Beine so aufstellt, dass er sich auf seinen Knien abstützen kann.
„Hast du nicht. Vielleicht hast du nach außen hin so getan, aber in dir drin war es doch auch damals schon ein Thema. So etwas wird mit der Zeit schlimmer, wenn man darüber nicht redet. Vor allem bei solch schrecklichen Bildern in deinem Kopf."
Patrick schluchzt laut auf. Seine Gefühlswelt ist ihm seit gestern deutlich zu nah und so kann er auch jetzt nichts gegen diese unternehmen. Seine Fingerspitzen krallen sich förmlich in seine Haare, die in alle möglichen Richtungen abstehen und wahrscheinlich das zerzauste Ebenbild seiner selbst darstellen.
„Wie hast du dich gefühlt, als du mir davon erzählt hast?",hakt Thomas vorsichtig nach und hofft, dass diese Worte bei Patrick auf Gehör treffen. Dieser schnieft nur, bevor er in seine Hände nuschelt:„Befreiend. Es hat sich unfassbar befreiend angefühlt auf diesem Fuß erwischt zu werden."
Thomas schweigt. Er spürt, dass sein Gegenüber den Raum und die Stille braucht.
„Weißt du eigentlich wie schwer es ist eine solche Seite dauerhaft zu verstecken? Die Seite, die vor lauter Schmerz, Trauer und der Wahrheit schon viel zu voll ist? So voll, dass sie bereits bei jeder Kleinigkeit überkocht? Bei jeder Erinnerung, bei jedem Vorwurf? Ich hasse sie.."
Patrick verstummt und nimmt seine Hände von seinem Gesicht, nur um mit seinen verweinten Augen nach Thomas Blick zu suchen. Er braucht den Halt in diesem Moment wohl mehr als alles andere.
„Du brauchst sie nicht mehr zu verstecken. Wir arbeiten das alles Schritt für Schritt auf und auch wenn der Weg vielleicht nicht immer leicht für dich ist, du schaffst das. Wir schaffen das. Du hast so viele Leute um dich herum, die dich hierbei unterstützen. Das einzige, das du machen musst ist reden. Rede mit mir, schrei mich an oder werfe mir sonst was für Wörter an den Kopf. Lass es einfach raus."

Patricks Tränen beruhigen sich langsam und auch er kommt ein wenig mehr zu Ruhe. Thomas hat recht. Er ist hier, er will sich helfen lassen. Er möchte diese Bilder aus seinem Kopf verbannen, die Gedanken zügeln und seine inneren Vorwürfe endlich in den Griff bekommen. Er möchte weiterleben. Aus seinem Schneckenhaus kriechen und zeigen das er stark ist. Für Joelle, aber auch für seine Geschwister und nicht zuletzt für sich selbst. Denn irgendwann ist man an dem Punk, an dem man begreift, dass man nicht mehr zu kämpfen braucht, weil es einen auf seinem Weg nicht weiter bringt. Man fängt an loszulassen. Menschen, Hoffnungen, oder Dinge aus der Vergangenheit. Man begreift, dass man sie nicht mehr ändern kann, egal wie sehr man es auch möchte. Irgendwann ist die Angst loszulassen vorbei und du gehst deinen Weg, packst deinen Koffer mit allem was bleibt und lebst wieder.

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt