Ein letztes Mal

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Ein letztes Mal lässt Patrick seinen Blick in den Garten gleiten. Das Grau des Herbstes ist dem Weiß des Winters gewichen und auch jetzt landen die kleinen weißen Flocken unglaublich sanft auf der Wiese, die bereits von einer ordentlichen Schneeschicht bedeckt wird. Ein Lächeln ruht auf seinen Lippen. Ein Lächeln voller Wehmut. Wie oft Bowie doch durch dieses Garten getobt ist, voller Lebensfreude. Wie oft Patrick und Joelle im Sommer draußen saßen und den Abend genossen hatten. Gemeinsam. All diese Erinnerungen werden von dem Weiß zu Nichte gemacht, das sich, wie ein Schleier, auf sie legt. Das Weiß, das diese Nacht schon fast zum ersten Mal jährt.
Diese Nacht, in der sich sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat.
„Paddy, bist du soweit?", leise durchbricht Maite die Stille und blickt zu ihrem Bruder, der noch immer aus der großen Glaswand in den Garten blickt. Sie möchte ihrem Bruder Zeit lassen, gleichzeitig möchte sie aber nicht in die Dunkelheit bei dieser Witterung geraten.
Patrick nickt stumm, ehe er nach seiner gepackten Tasche greift und an Maite vorbeiläuft. Ein wenig irritiert blickt sie ihrem Bruder hinterher, folgt ihm dann aber in die Kälte und betrachtet ihn von hinten, während er mit zitternden Händen die Tür abschließt.

„Das ist kein Abschied für immer. Ganz bald bist du doch wieder Zuhause."
Sanft legt sie ihre Hand auf seine Schulter, woraufhin Patrick kurz innehält. Zuhause. Ein Zuhause ist dieses Haus wohl schon lange nicht mehr. Die Erinnerungen werden begraben, sind nichts mehr Wert und doch schlummert noch so viel in diesen vier Wänden, dass Patrick eine Gänsehaut beschert. Ein letztes Mal dreht er den Schlüssel in dem Schloss herum, dreht sich zu Maite und drückt ihr den kalten Schlüssel in die Hand. Dieser Schlüssel war einst der Schlüssen zu seinem Glück. Er war warm, ebenso wie dieses Haus voller Wärme und Geborgenheit gefüllt war. Nun ist er ebenso kalt, wie die vielen verlorenen Erinnerungen.
„Bei aller Liebe, ein Zuhause ist dieses Haus schon lange nicht mehr.", fügt er seiner Geste hinzu, ehe er Maites Hand mit seiner schließt und ihr knapp zulächelt. Seine Tasche verbannt er in den Kofferraum und wirft einen Blick zu seiner kleinen Schwester, die noch immer vor der Haustür steht und den Schlüssel in ihrer Hand mustert. Nach einer Weile löst sie sich aus ihrer Starre und lässt den Schlüssel in ihre Jackentasche gleiten, ehe sie die wenigen Schritte bis zum Auto ebenfalls hinter sich bringt und sich auf dem Beifahrersitz niederlässt. Schmunzelnd schüttelt Patrick den Kopf, wirft noch einen letzten Blick zu dem Haus und setzt sich schließlich neben seine Schwester.

Mit jedem gefahrenem Kilometer lässt er ein Stück von dem hinter sich, was das letzte Jahr viel zu sehr auf seinen Schultern gelastet hat. Er lässt Stücke von sich zurück, seinen Gedanken und Gefühlen. Und es fühlt sich gut an, befreiend.
Stumm legen die beiden Geschwister Kilometer um Kilometer zurück, bis Patrick schließlich das Radio anschaltet, um der bedrückenden Stille wenigstens etwas Leben einzuhauchen. Maite erstickt dieses Leben im Keim, indem sie das Radio wieder ausschaltet und ihren großen Bruder von der Seite mustert. Kurz erwidert er ihren Blick, richtet diesen dann aber sofort wieder auf die Straße. Die Autobahn ist zum Glück geräumt und wird von den vielen Autos freigehalten, sodass der Schnee kein großes Hindernis darstellt.
„Ist das wirklich okay?", hakt Maite leiser nach.
„Ich meine, wir können auch bei dir bleiben.. die Kinder sind bis Weihnachten bei Florent, ich habe Zeit und..-"
„Maite, es ist okay. Sonst hätte ich dich nicht darum gebeten. Ich würde verrückt werden in diesem Haus.", unterbricht Patrick seine Schwester, ehe sie sich noch mehr in ihren Vorschlägen verirren kann.
„Ich will dir nur nichts aufzwängen und dich schon gar nicht wie ein rohes Ei behandeln.", erwidert sie, bevor sie ihren Blick aus dem Fenster wirft und die vorbei rauschende Winterlandschaft betrachtet.
„Hey, wir hatten eine Abmachung. Ich sage dir Bescheid, wenn mir dahingehend etwas nicht passt. Mach dir keine Sorgen.", schmunzelt Patrick, während er seine Hand kurz auf Maites Oberschenkel legt und ihr ein ebenso kurzes Lächeln schenkt.
„Du bist doof, weißt du das? Ich will nur dein Bestes.", gibt sie lachend zurück, was Patrick ebenfalls lachen lässt. Ein wenig hat er diese unbeschwerte Stimmung auf langen Autofahrten schon vermisst. In letzter Zeit wurden längere Autofahren eher zu einer Art Tortur, in denen er Rede und Antwort stehen musste. Zwischen Tür und Angel.
„Das Beste ist doch schon, dass du auf mich Riesenbaby aufpasst und nicht Jimmy oder Patricia.", schmunzelt er, bekommt daraufhin aber keine Antwort mehr von seiner Schwester. Ja, das ist wirklich das Beste.

Schon alleine wenn Patrick daran denkt, die nächsten Wochen bei einem der beiden verbringen zu müssen, zieht sich seine Brust zusammen.
Wahrscheinlich würden die beiden nämlich genau das tun. Ihn wie ein rohes Ei behandeln, immer ein Auge auf ihn werfen und selbst Nachts nach dem Rechten sehen. Und genau das ist es, wovon Patrick weg möchte. Von diesem ständigen Mitleid, den ständigen Sorgen und den ständigen Kontrollen, denen er sich in der Klinik schon mehr als genug unterziehen musste.
Fast 1 1/2 Monate waren seit dem Gespräch mit Thomas in dem Park vergangen. 1 1/2 Monate, in denen Patrick sich voll und ganz auf sich, seinen Willen und seine Gesundheit konzentriert hat und nun, Mitte Dezember, unter Vorbehalt die Klinik verlassen durfte. Einen ganzen Monat wird er bei Maite unterkommen, mit seinen Geschwistern und ihren Familien Weihnachten und Silvester verbringen. Den Tag verbringen, der ihm wohl am meisten beschäftigt. Joelles Todestag. Das Ende des Kreises, der sich durch dieses Jahr gezogen hat. Trauer, Vorwürfe, Zusammenbrüche aber auch Liebe, Geborgenheit und Zusammenhalt.

„Geht es dir besser oder hast du vor Thomas nur deine Bühnenmaske aufgezogen?", bricht Maite plötzlich nach einer ganzen Weile die Stille, in der die beiden Geschwister ihren eigenen Gedanken nachgegangen waren.
„Thomas kennt mich und noch dazu ist es sein Job. Er hätte das bemerkt. Mir geht es wirklich besser.", antwortet Patrick mit so viel Überzeugung in seiner Stimme, dass er sich diese Lüge schon fast selbst abgekauft hätte. Einige Male hatte er Thomas etwas vorgemacht, seine Maske aufgesetzt und so getan, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl es das nicht war. Noch immer verfolgte er seinen Plan, seine heile Welt, und diesmal gelang es ihm deutlich besser, diesen Plan zu verstecken. Seine Absichten nicht offenzulegen. Ein weniger erleichtert atmet Maite aus und lässt sich tiefer in den Beifahrersitz sinken.
„Schlaf ruhig, ich weiß wie müde Gespräche mit Thomas machen.", schmunzelt Patrick seiner Schwester zu, die ihren Blick weiterhin aus dem Fenster richtet.
„Ich bin nur erleichtert dass das alles so reibungslos funktioniert hat.", gesteht sie leiser und schaut kurz zu ihrem Bruder hinauf, der lächelnd nickt und sich auf die Straße konzentriert. Ja, darüber ist er auch froh. Endlich kann er seinem Plan nachgehen, ist nicht mehr innerhalb der Klinikmauern gefangen. Muss nicht mehr sein Denken und Handeln reflektieren und über alles offen sprechen, was in ihm vorgeht.

„Hey Paddy, dein Handy klingelt."
Verschlafen blinzelt Patrick gegen das viel zu grelle Licht an, das die kleines Lampe des Autos auf den Beifahrersitz wirft. Maite steht an der offenen Tür der Fahrerseite und hält ihrem Bruder sein Handy entgegen.
„Kann das nicht warten?",hakt er mürrisch nach, greift im selben Moment aber nach seinem Handy und blickt darauf. Pino. Es kann also wohl nicht warten.
„Yes?", fragt er in sein Handy und räuspert sich im nächsten Moment, um seine dunkle Stimme beiseite zu schieben.
„Naaa? Ich habe gesehen, dass du online warst und wollte deine schöne Stimme mal wieder hören. Habe ich dich geweckt?"
Patrick muss bei der Freude in Pinos Stimme schmunzeln, ehe er sich ein wenig mehr aufrichtet und sich durch die Haare fährt.
„Gerade ist sie nicht so schön. Ich muss wohl eingeschlafen sein.", erwidert Patrick und blickt dabei zu Maite, die ihrem Bruder nur zu grinst. Er kann sich nicht einmal daran erinnern, dass er mit seiner Schwester den Platz getauscht hat. Auch Pino muss am anderen Ende der Leitung lachen.
„Aber hey, wie geht's dir?", plötzlich ist der Ernst in seiner Stimme wieder da und lässt Patrick automatisch das Blut in den Adern gefrieren.
„Gut, also besser. Ich bleibe jetzt erst mal bei Maite.", gibt er zurück und ist erstaunt von sich selbst, mit was für einer festen Stimme er dies rüberbringt.
„Das klingt doch super! Wenn du was brauchst, melde dich. Oder wenn du etwas planst...", den letzten Satz bringt Pino mit so viel Andeutung in seiner Stimme rüber, dass es schon ein wenig zu übertrieben ist. Planen. Musik, eine Tour. Patrick schluckt.
„Nein."
„Wie, nein?", hakt Pino irritiert nach und lauscht schließlich der Stille am Ende der Leitung. Patrick atmet einmal tief durch.

„Ich werde keine Musik mehr machen und auch nicht mehr auf Tour gehen. Sag alles ab, was für nächstes Jahr schon in trockenen Tüchern ist."

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt