Wie versteinert kommt Patrick vor der großen Tür der Klinik zum stehen. Der Regen plätschert unaufhörlich von dem Dach hinab und auch die Regenrinnen des Gebäudes sind schon längst überflüssig geworden. Er atmet tief durch, ehe er seine Augen schließt und die Geräuschkulisse auf sich wirken lässt. Viel zu lange hat er sich danach gesehnt endlich wieder an der frischen Luft zu stehen, den Regen auf sich zu spüren und nicht nur durch das Fenster seines Zimmers beobachten zu müssen, wie dieser sich seinen Weg nach unten sucht. Die regelmäßigen Sommergewitter der letzten Wochen haben die Sommerhitze vollends besiegt und nun liegt der ruhige Stadtteil Kölns in einem herbstlichen Grauton vor ihm. Mit Wehmut begleitet lässt Patrick seine Augen diesen Grauton nun genauer betrachten. Dieser Grauton, der so befremdlich wirkt und doch nicht näher an seiner Gefühlswelt sein könnte. Den Grauton, den Patrick schon seit Wochen in dem vergehenden Sommer erblickt hat. Den Grauton, dessen Dämonen auch in dieser bestimmten Nacht auf ihm lagen. Patrick schluckt. Noch immer prasselt der Regen auf ihn hinab und doch ist es ihm seltsam egal. So egal, wie es das auch in dieser Nacht war. Die kühlen Tropfen auf seiner Haut fühlen sich gut an. Fast so, als können sie alles in ihm herunterkühlen und den Topf mit heißem Wasser davor bewahren überzukochen. Doch auch die kalten Tropfen des Regens füllen diesen Topf mit mehr Wasser. Patrick blickt zu Boden. Zwischen seinen Füßen bilden sich bereits Pfützen und doch sind seine Beine noch immer zu schwer, um seinen Körper einen Schritt weiter nach vorne zu tragen. Weiter nach vorne und somit einen Schritt weiter in die bittere Realität. Er wollte raus. Raus aus der viel zu lauten Welt der Klinik, doch jetzt, unter dem Plätschern des Regens, scheint die laute Welt der Klinik doch ganz leise.„Paddy, du wirst noch krank wenn du weiterhin hier stehst.", bricht Jimmy vorsichtig die Stille und fängt den Blick seines kleinen Bruders auf. Seine Haare kleben mittlerweile an seiner Stirn und auch sein T-Shirt ist durch den strömenden Regen bereits durchnässt.
„Wieso stehst du mit mir hier?", hakt Patrick leise nach, lässt seinen Blick aber auf Jimmy ruhen. Wieso setzt er sich nicht einfach in das trockene Auto und wartet dort, bis Patrick sich die Zeit genommen hat, die er braucht?
„Was wäre ich denn für ein Bruder, wenn ich dich alleine im Regen stehen lassen würde?", schmunzelt Jimmy.
Patrick lächelt. Auch wenn Jimmy ihn manchmal nervt, zu weit geht oder übertreibt, eins weiß er. Alleine im Regen würde sein großer Bruder ihn niemals stehen lassen. Auch durch den tiefsten Sturm in Patricks Leben wäre und ist Jimmy ein treuer Begleiter und immer für ihn da. So auch jetzt.
„Möchtest du mir versuchen zu erklären wie du dich fühlst?"
Erstaunt erwidert Patrick den Blick seines großen Bruders, weiß jedoch genau, dass Thomas ihm diese Worte in den Mund gelegt hat.
„Lass uns zum Auto gehen."Patrick ist erleichtert, dass seine viel zu schweren Beine ihn nun doch vorwärts tragen und trotzdem fürchtet er sich vor jedem weiteren Schritt mehr. Jeder weitere Schritt, der vermeintlich in Richtung Besserung führt. Jeder weitere Schritt, der ihn mit der Realität und dem Alltag konfrontiert. Jeder weitere Schritt, der es ihm nicht erlaubt sich hinter seiner Mauer aus Gefühlen, Gedanken und Vorwürfen zu verstecken, sondern alles geschehen zu lassen. Jimmy muss nicht all seine Gedankengänge verfolgen können. Letztendlich sind es schließlich nur Patricks eigenen Gedanken, die er ohnehin nicht verstehen würde. Die selbst Patrick nicht versteht.
Ein wenig entspannter lässt Patrick sich in dem Beifahrersitz sinken, als sein Bruder den Weg nach Düsseldorf ansteuert. Er weiß noch immer nicht, ob es die richtige Entscheidung war diesem Wochenende außerhalb der Klinikmauern zuzustimmen.
„Wie waren die letzten drei Wochen?"
Er schluckt. Die letzten drei Wochen, in denen er jeglichen Kontakt zu seinen Geschwistern vermieden hatte, um sich auf sich zu konzentrieren. Die letzten drei Wochen, nach dem offenen Gespräch mit Thomas. Die letzten drei Wochen, die wohl die größte Berg- und Talbahn seines Lebens widerspiegeln.
„Ich habe Thomas nicht umsonst um Verschwiegenheit dir gegenüber gebeten.", erwidert Patrick leise und richtet seinen Blick aus dem Seitenfenster, als er den kurzen Blick seines Bruders auf sich spürt.
„Und ich habe dich nicht umsonst gefragt. Ist irgendetwas passiert, von dem ich wissen müsste? Abgesehen von der Sache mit deinen Armen?", Jimmys Stimme klingt ruhig und trotz allem liegt eine gewisse Forderung in ihr.
Patrick möchte etwas sagen, findet jedoch nicht ansatzweise die passende Beschreibung für diese drei Wochen. Seine Worte könnten ohnehin bloß die kleine Wahrheit ausdrücken, weshalb er die Antwort auf seinem Schweigen beruhen lässt.„Du hast mit ihm geredet?", wieder wirft Jimmy seinem Bruder einen Seitenblick zu, ehe er sich wieder auf die verregnete Straße konzentriert.
„Habe ich und die drei Wochen danach waren ein großes Auf und Ab, okay? Lass uns das jetzt bitte nicht zum Thema machen."
Verständnisvoll nickt Jimmy und lässt der Stille ihren Raum. Der Stille, die gerade so vieles mehr zwischen den beiden Brüdern zu klären scheint, als Worte es ohnehin jemals könnten.
„Wie stehst du jetzt zu dem Wochenende?"
Patrick zuckt leicht zusammen als Jimmy nach einer Weile die angenehme Stille wieder bricht und ihn damit zurück in die Realität zieht.
„Ich weiß noch nicht so genau, ob es die richtige Entscheidung war.", gibt Patrick wahrheitsgemäß zurück, während er seinen Blick noch immer den Regentropfen an der Scheibe schenkt, die sich ein stetiges Wettrennen an dieser liefern. War es das, oder wird er spätestens bei Patricia seine Entscheidung bereuen? Seine Entscheidung mit Jimmy, Patricia und Joey zu dem Abschlusskonzert von Maite in Köln zu gehen und das Wochenende mit seinen Geschwistern zu verbringen. Zu dem Konzert, das Maite damals wegen ihm abbrechen und somit auf das Ende der Tour verschieben musste. Wie wird Maite reagieren? Sie weiß nichts von dem Besuch der Geschwister und schon gar nicht darüber, dass Patrick am Wochenende ebenfalls mit von der Partie sein wird. Maite hat Tour bedingt nur mit Patrick telefoniert, ihn nicht besucht und doch nimmt er dies seiner Schwester nicht im geringsten übel. Sie ist noch immer sein Fels in der Brandung, sein Anker im Sturm und nicht zuletzt einfach seine kleine Schwester.
„Du weißt das du hiermit absolut niemandem etwas beweisen musst. Wenn etwas nicht geht oder du dich unwohl fühlst, gib einfach Bescheid und wir suchen nach einer Lösung. Thomas ist immer für dich erreichbar. Ob es die richtige Entscheidung war wird sich wohl erst im Nachhinein zeigen, aber ich bin froh, dass du es immerhin versuchst."Patrick nickt gedankenverloren. Wahrscheinlich hat Jimmy recht. Er kann sich nicht für immer hinter den Mauern der Klinik verstecken und so tun, als hätte er in der Welt da draußen keine Aufgabe mehr. In der Welt, die nicht einfach mal so stehen geblieben und eine Pause eingelegt hat, während er in seiner eigenen Welt gefangen war. Vielleicht ist es einfach an der Zeit sich mit der Realität zu konfrontieren, mit ihr umzugehen. Vielleicht ist es aber auch einfach an der Zeit seinen persönlichen Frieden zu schließen. Trotz allem liegen ihm die letzten drei Wochen schwer im Magen. Sein Zusammenbruch, das ehrliche Gespräch mit Thomas und die anschließenden Therapiestunden, dessen Abgründe ihm immer wieder Angst eingejagt haben. Die wachen Nächte, seine Gedanken. Aber auch positive Ereignisse finden hier ihren Platz. Zwar gleichen diese von ihrer Seltenheit eher Diamanten in einem Trümmerhaufen, doch Patrick weiß das sie da sind. Die kleinen leuchtenden und funkelnden Momente in mitten der dunklen Nacht. Wie Sterne am Himmel. Unnahbar und kalt, trotzdem von unglaublichem Wert. Kleine Momente, die man viel mehr schätzen sollte als die ganzen Abgründe in dem großen Trümmerhaufen.
„Unser Ausreißer ist auch mal wieder Zuhause!"
Patrick zuckt heftig zusammen, als er die Stimme von Joey hört und kurz darauf die Regentropfen ihr rennen aufgeben, da Jimmy die Scheibe hinunter lässt. Sofort steckt Joey seinen Kopf zum Fenster rein, was nun auch Patrick und Jimmy zum schmunzeln bringt.
„Ihr seid ja pitschnass! Schade aber auch. Ich wollte eigentlich einen fliegenden Fahrerwechsel vorschlagen, damit der Kleine mal was richtiges zwischen die Zähne bekommt. Im Gefängnis gibt es ja nur Brot und Wasser.", hängt er lachend hinterher.
„Du bist so ein Spinner!", erwidert Patrick belustigt und bringt somit auch Jimmy zum lachen, der den Schlüssel aus dem Zündschloss zieht.
Obwohl Patrick nicht in Bayern ist, nicht bei Bowie und nicht in seinem Haus, fühlt es sich an, als würde er gerade nach langer Zeit nach Hause kommen. Zu seiner Familie, seinen Geschwistern, die schon viel früher für ihn da gewesen wären, wenn er auch nur ein Wort gesagt hätte.
Bleibt.
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Gegen den Verstand
Fanfic„Wenn wir uns an dem Ort treffen, an dem wir uns kennengelernt haben, du mich aber nicht siehst, tue mir bitte einen Gefallen. Lass die Vergangenheit endlich los.." Triggerwarnung: In dieser Geschichte werden Themen behandelt, die für Menschen in p...