Hinter bekannten Mauern

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Patrick starrt an die weiße Wand des Wartezimmers. Einer der beiden Polizisten hat neben ihm Platz genommen und wirft immer wieder sein wachsames Auge auf ihn, während der andere mit Thomas und Maite am Empfang steht und alles weitere klärt.
Patrick hört die Stimmen der anderen klar und deutlich, auch wenn sein Tunnelblick förmlich an der Wand gegenüber von ihm klebt. Wie konnte es soweit kommen?
Erst jetzt scheint er zu begreifen was dort oben auf dem Dach, weit über des Nachtlebens von Köln, eigentlich in ihm vorgegangen war. Wollte er sich etwas antun? Sich einfach nur verabschieden? All diese Fragen verirren sich in seinem Kopf, wirken gleichzeitig so gegenwärtig und doch surreal. Zitternd atmet er aus und zieht so unfreiwillig den Blick des Polizisten wieder auf sich.
„Alles okay bei Ihnen?"
Patrick schluckt. Am liebsten würde er seinen Blick von der Wand lösen, den Polizisten wütend anfunkeln und diesem klar machen, in einer welchen Situation er jemanden fragt, der noch vor kurzem am Abgrund stand, ob alles okay bei ihm sei. Doch er macht es nicht. Dazu fehlt ihm deutlich die Kraft. Bloß ein leichtes Nicken bringt er an die Außenwelt und starrt weiterhin an die triste Wand vor sich.
Auch Maite richtet ihren Blick immer wieder zu ihrem Bruder. Sie weiß, dass sie ihn gleich alleine lassen muss. So sind nun mal die Bedingungen. Trotz allem wirkt sie sehr gefasst und erzählt Thomas all das, was sie von Jimmy weiß und letztendlich auch das, was vor kurzem auf dem Dach geschehen ist.
„Wir würden uns dann wieder auf den Weg machen, die Arbeit ruft."

Erst jetzt kann Patrick seinen Blick von der Wand trennen und blickt dem Polizisten, der eben noch neben ihm saß, hinterher. Auch er geht zu dem Empfang und reicht Thomas zum Abschied die Hand, wie es sein College zuvor getan hatte und verabschiedet sich mit einem "alles Gute" schließlich auch von Patrick. Dieser versucht den Blick seiner Schwester aufzufangen, die es nicht schafft ihrem Bruder in die Augen zu sehen. Viel zu sehr fürchtet sie sich vor dem Ausdruck, der sie erwarten könnte. Ohne ein Wort zu sagen dreht auch sie sich weg und läuft den Polizisten hinterher in Richtung Ausgang. Es fällt ihr schwer. Mehr als das. Es fühlt sich noch tausendmal schlimmer an, als sein Kind das erste mal alleine im Kindergarten zu lassen, wenn dieses seine Tränen nicht stoppen kann und viel lieber wieder mit nach Hause möchte. Doch sie weiß, dass dieser Schritt notwendig ist. Weiß, dass es ihm gut tun wird.
Patrick blickt zu Thomas hinauf, der den dreien ebenfalls hinterher schaut.
„Lass es mich ihr wenigstens erklären.",spricht Patrick seine Bitte leise aus. Thomas schüttelt den Kopf, blickt dann aber erst zu ihm hinab.
„Du weißt, dass ich das nicht verantworten kann."
Patrick wendet seinen Blick ab. Er weiß, wie es hinter diesen Mauern in einer solch akuten Situation läuft.
Gedankenverloren spielt er mit seinen Fingern, spürt dabei aber den deutlichen Blick von Thomas auf sich. Langsam schnürt sich seine Kehle zu und er merkt, wie seine Augen immer feuchter werden. Verzweifelt blinzelt er die Tränen weg und streicht sich kurz über sein müdes und eindeutig zu blasses Gesicht. Was war das bitte für ein Tag? Er spürt deutlich wie seine Mauer zu bröckeln beginnt. Wobei dies untertrieben ist. Es fühlt sich eher an, als wären bereits einige Teile aus dieser Mauer herausgebrochen. Unwiderruflich.
Thomas lässt sich langsam auf den Stuhl neben ihm sinken und legt seine Hand auf die Schulter des jüngeren. So professionell er die Sache auch sehen muss, Patrick ist immer noch sein Freund.
„Möchtest du nicht erst einmal mitkommen und wir gehen alles in Ruhe an?"
Patrick richtet seinen Blick zu Boden. Thomas Stimme klingt sanft, vertraulich und genau das ist es, was ihn nicken lässt. Was soll er großartig tun? Hier raus kommt er so einfach nicht mehr.
Thomas steht auf und reicht Patrick seine Hand, die dieser nur zögernd mustert und nicht ergreift.
„Nimm die Hilfe einfach an. Ich weiß, was bei deinen Geschwistern vorgefallen ist."
Ein unerklärlicher Schauer breitet sich auf seinem Rücken aus. Seine Geschwister. Sie alle müssen sich unheimliche Gedanken machen. Alle, bis auf Angelo. Dieser ist wahrscheinlich froh sich nicht mehr mit Patrick vergnügen zu müssen.
Zögernd und zitternd ergreift Patrick seine Hand und lässt sich hoch helfen. Er kann wohl nicht leugnen, dass mit seiner Gesundheit etwas nicht stimmt und lässt sich deshalb bereitwillig auf die Krankenstation der Klinik begleiten.

Erst jetzt spürt er, wie müde er eigentlich ist. Dieser ganze Tag, der Streit, der Zusammenbruch, der Traum und schließlich auch die Begebenheit auf dem Dach, hat ihn doch mehr mitgenommen, als er gedacht hat.
Erschöpft lässt er sich auf dem Bett in dem kleinen Einzelzimmer nieder. Seine Gedanken sind jedoch an völlig anderen Stellen zu finden. Der eine Teil ist wohl in dem Club geblieben, während der andere sich unwillkürlich an die Zeit damals in der Klinik erinnert.
„Ich würde dich zwar gerne alleine lassen, aber ich kann die Situation nicht einschätzen.",reißt Thomas ihn aus seinen Gedanken und übergibt ihm ein weißes T-Shirt, sowie eine blaue Jogginghose. Patrick seufzt. So weit ist es also wieder gekommen? Verstehend nickt er und zieht sich ohne groß zu zögern um. Thomas kennt ihn. Er hat Patrick schon ganz anders gesehen.
„Du willst das ich rede, oder?",harkt Patrick leise nach, als er sich in das Bett, dessen Kopfteil so hochgestellt ist, dass er Thomas immer noch anblicken kann, legt. Dieser lehnt an der Fensterbank und beobachtet ihn.
„Willst du es denn?"
Patrick zuckt mit den Schultern. Seine Mauer bricht. Er muss darüber reden, all das raus lassen, was viel zu lange schon in ihm feststeckt. Doch er schweigt. Schweigt, weil die Stille manchmal lauter und deutlicher sein kann, als jeder Sturm.

„Wovor hast du Angst?"
Patrick bricht den Blickkontakt zu Thomas ab und lässt sich die Frage genauer durch den Kopf gehen. Wovor?
„Es auszusprechen macht das Alles hier noch viel realer.",gibt er leise zurück. Er erwartet keine Antwort. Er weiß, dass Thomas ihm lediglich zuhört.
„Ich glaube genau das ist der Punkt, warum ich dauerhaft auf die Vergangenheit und das zurückblicke, was uns damals widerfahren ist.",beendet er seinen Gedankengang und blickt nun wieder zu Thomas auf, der bloß nickt und nach einem Stuhl greift, um diesen neben Patricks Bett stellen zu können uns sich auf diesem niederlässt.
„Du hast in der Vergangenheit bereits diese Erfahrung gemacht, Patrick. Du weißt, dass es dir hilft mit jemandem darüber zu reden. Warum hast du es nicht schon früher getan?",harkt er ruhig nach. Nicht der kleinste Ton von Anschuldigungen klingt in seiner Stimme mit.
„Ganz ehrlich?"
Augenblicklich schießen Patrick Tränen in die Augen. Er kann sich nicht erklären, wo genau diese gerade in seinem Unterbewusstsein ihren Ursprung finden, aber sie sind hier. Hier bei ihm und machen diese Situation gerade greifbar und real.
„Ich meine klar, wir können darüber reden und ich kann mir anhören, dass die Trauer eines Tages nicht mehr gegenwärtig sein wird,...aber jetzt ist jetzt und jetzt gerade ist alles total scheiße!",bricht es aus ihm hinaus und auch seine Tränen bahnen sich den Weg über seine Wange. Thomas sieht ihn bloß beruhigend und abwartend an, während Patrick schluchzt, seinen Blick auf die Bettdecke richtet und sich seine Tränen von den Wangen streicht. Er möchte nicht weinen, doch die Mauer, die seine Gedanken und Gefühle zurückgehalten hat, scheint immer mehr zu bröckeln. Immer größere Teile brechen aus ihr hinaus und lassen seine Emotionen ebenfalls hinaus.
„Und sind wir mal ehrlich, ich war schon tausendmal an genau diesem wunden Punkt. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht mehr wusste wer ich bin und mich tausendmal fragte, wo gehöre ich eigentlich hin? I..ich meine, nach all dem. Habe ich das alles verdient?"
„Ich habe das Gefühl, dass du bereits eine Antwort auf diese Frage gefunden hast."
Patrick nickt, während er sich ein weiteres Mal die Tränen von seinen Wangen streicht.

„Du trägst daran keine Schuld. Egal, was du dir das letzte halbe Jahr eingeredet hast. Patrick, es ist nicht deine Schuld."
Schweigen. Patrick weiß, dass Thomas die ganze Geschichte hinter dieser Nacht zu kennen vermag.
„Du weißt gar nichts über diese Nacht.",gibt er plötzlich ungewohnt kalt von sich und fängt den verwunderten Blick des älteren auf.
„Wolltest du dir etwas antun?"
Wieder schweigt Patrick und richtet seinen Blick auf seine Hände, die immer noch zittern. Was soll er darauf antworten, wenn er es nicht weiß? Er zuckt mit den Schultern.
„Du weißt, dass ich die Situation einschätzen muss."
Thomas lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
„I don't know. I..ich wollte mich verabschieden. Wie es dann soweit kommen konnte kann ich dir auch nicht sagen.",gibt Patrick deshalb leise zur Antwort. Auch seine Tränen beruhigen sich langsam und er zuckt leicht zusammen, als er Thomas Hand auf seiner Schulter spürt und zu diesem hinaufblickt. Plötzlich breitet sich ein Gefühl von Geborgenheit in ihm aus. Er kennt Thomas, die Klinik. Die Zeit hier drin hatte ihm damals geholfen.

„Wir schaffen das, okay? Ich helfe dir."
Zögernd nickt Patrick. Vielleicht ist es der richtige Weg, vielleicht auch nicht. Doch dies kann Patrick nur herausfinden, wenn er diesen geht. Er weiß Maite an seiner Seite. Thomas, Patricia, Jimmy. Sie alle werden für ihn da sein und ihm auf diesem, vielleicht nicht einfachen, Weg begleiten und unterstützen. So, wie sie es schon damals getan haben.

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt