Nicht die Realität

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Patrick steht auf der Straße.
Der Regen prasselt auf ihn hinab und durchnässt seine Kleidung.
Verwirrt blickt er sich um.
Die Straße erstreckt sich auf beiden Seiten bis zum Horizont. Neben ihr scheint ein riesiger Abgrund zu klaffen.
Alles ist grau. Kein Sonnenlicht dringt durch die dicken, grauen Regenwolken.
Es ist kalt. Winter. Trotzdem kommt der Regen nicht in Form von Schnee vom Himmel.
Plötzlich reißt Patrick die Augen auf, als sich zwei Scheinwerfer am Horizont zeigen. Sie kommen auf ihn zu. Viel zu schnell. Im letzten Moment kann er dem roten Auto ausweichen, welches mit einem Hupen an ihm vorbei rauscht. Patrick weicht zurück. Sein Blick heftet sich auf die Rückspiegel des Autos, während er immer weiter auf den Abgrund zu läuft.
Er stoppt erst, als sich eine Hand auf seine Schulter legt. Erschrocken dreht er sich um und erstarrt sofort, als er in ein bekanntes Gesicht blickt. Joelle steht vor ihm.
Immer noch ruht ihre Hand auf seiner Schulter, während sie ihn lächelnd anblickt.
„Lauf nicht davor davon.",sagt sie sanft, fast flüsternd und legt ihre Hand an seine Wange. Irritiert blickt er Richtung Auto, welches schon längst nicht mehr zu sehen ist, bevor er seinen Blick wieder an sie heftet.
Patrick zieht jedes Detail in seine Erinnerung. Ihre wundervollen Augen, ihre Lippen. Einfach alles.
„D.. das ist nicht real.",gibt er ebenso leise von sich und spürt, wie sie kurz mit ihrem Daumen über seine Wange streicht, bevor sie ihre Hand wieder an seine Schulter legt.
„Schließe die Augen und sag mir, was du hörst."
Skeptisch tut er, was sie von ihm will. Zuerst hört er nichts, dann konzentriert er sich auf das prasseln des Regens, der auf den Beton der Straße fällt.
Je länger er die Augen geschlossen hält, umso schöner klingt es. Schon bald hat es jeglichen Anschein von Regen verloren. Es klingt wie Applaus. Seine Gedanken gleiten zu seinen Konzerten. Ihm wird zugejubelt, applaudiert und nach Zugaben gerufen.
„Zugaben musst du hier nicht geben.",reißt Joelle ihn aus seinen Gedanken und bringt ihn wieder dazu, seine Augen zu öffnen.
„Vertraust du mir?",fragt sie sanft.
Patrick nickt zaghaft. Er weiß nicht, wo er gerade reingeraten ist.
Sanft greift Joelle nach seiner Hand und führt ihn auf die Mitte der Straße.
„Was ist das hier?",spricht er seine Gedanken leise aus, kann seinen Blick aber immer noch nicht wirklich von seiner verstorbenen Frau lösen.
Sie lächelt.
„Nicht die Realität.",erwidert sie und löst sich von seiner Hand. Langsam weicht Joelle zurück. Patrick selbst bleibt wie angewurzelt stehen und folgt ihr mit seinem Blick. Wie gebannt starrt er sie an. Immer näher kommt sie dem Abgrund, verliert dabei ihr Lächeln auf den Lippen aber keinesfalls. Ohne zu zögern macht sie die letzten Schritte, bevor sie in den Abgrund stürzt.
„NEIN!!",schreit Patrick laut und möchte auf den Abgrund zu rennen, erkennt aber in den Augenwinkeln ein Scheinwerferlicht. Dann ein hupen und dann einfach leere.




Patrick schreckt hoch. Schwer atmend sieht er sich im Raum um, stürzt jedoch orientierungslos ins Badezimmer, kniet sich vor die Toilette und muss sich übergeben. Gequält seufzt er, während er sich mit seiner zitternden Hand über die Stirn streicht.
„Was ist hier los?",fragt Patricia, als sie den Raum betritt. Sie war von Patricks Schrei wach geworden und so schnell wie möglich her gekommen. Auch Jimmy betritt nach ihr den Raum. Maite steht an der Badezimmertür und mustert ihren Bruder.
„Ich weiß es nicht.",gibt sie zu und betritt das Bad, um ihre Hand auf die Schulter von Patrick zu legen.
Dieser zuckt aber bloß heftig zusammen und muss sich erneut übergeben.
Ihm ist alles zu viel.
Maite drückt auf die Spülung und drückt Patrick sanft nach hinten, sodass dieser auf dem Boden sitzt und sich an der Wand anlehnt.

„Was ist passiert?",harkt Patricia ein weiteres Mal nach, während sie das Bad betritt. Jimmy bleibt an der Tür stehen.
„Er hat total unruhig geschlafen und als er geschrieen hat, ist er plötzlich aufgeschreckt und sofort zur Toilette gestürzt.",erklärt Maite leise und legt ihre Hand auf Patricks Stirn.
Auf dieser steht sein Schweiß und auch sein T-Shirt klebt an seinem Oberkörper.
„Er sieht echt scheiße aus.",mischt Jimmy sich ein und fängt den gequälten Blick von Patrick auf, der sich zu ihm richtet.
Er möchte Antworten, jedoch hat er dazu einfach nicht die Kraft.
„Fieber hat er nicht."
„Er ist auch nicht krank.",erwidert Patricia und drückt ihre kleine Schwester ein wenig zur Seite, sodass sie sich vor ihren Bruder hocken kann.
„Möchtest du darüber reden?"
Patrick schüttelt den Kopf. Er möchte einfach alleine sein.
„Lasst uns bitte kurz alleine.",bittet Patricia und blickt ihren beiden Geschwistern dankbar hinterher, während diese den Raum verlassen und die Tür schließen.

Besorgt richtet sie sich wieder an Patrick.
Dieser kann gerade keinen klaren Gedanken fassen. Was war das für ein Traum? Was hat er zu bedeuten? Und vor allem, was möchte Joelle ihm sagen? Dies sind nur ein paar Fragen, die in seinem Kopf umherschwirren.
Er blickt zu Patricia auf. Sie bewegt ihre Lippen, scheint mit ihm zu sprechen, doch kein Wort dringt zu ihm durch. Bloß seine lauten Gedanken finden einen Platz in seinem Kopf.
Erst als sich eine Träne aus Patricias Augenwinkel löst, scheinen sich seine Gedanken zu lichten.
Er nimmt das schluchzen seiner Schwester wahr und streicht ihr liebevoll mit seiner zitternden Hand die Tränen aus dem Gesicht. Bei ihr brechen derweil alle Dämme und sie beginnt zu weinen. Sie möchte das alles nicht noch einmal erleben. Einmal hatte ihr damals gereicht und sie hatte dafür gebetet, dass es kein weiteres Mal notwendig werden würde, aber scheinbar wurden diese Gebete nicht erhört.

Patrick lehnt sich ein Stück nach vorne und nimmt seine Schwester in den Arm.
Diese vergräbt ihren Kopf sofort an seiner Schulter und schlingt ihre Arme ebenfalls um ihn.
„Sorry.",nuschelt Patrick in die Umarmung, während er seiner großen Schwester über den Rücken streicht.
„Don't say sorry.",erwidert sie schluchzend. Sie vergräbt ihren Kopf tiefer in Patricks Schulter und versucht sich zu beruhigen.

Sie hat Angst. Angst davor, Patrick ein weiteres Mal so am Boden zu sehen. Noch mehr, als er es Momentan ist. Angst davor, ihn nicht mehr zu erkennen und nicht zuletzt davor, dass er sich ein weiteres Mal versucht umzubringen. Sie hat damals so lang versucht für Patrick da zu sein. Stark zu sein. Für ihn zu kämpfen und ihn zurück ins Leben zu holen, bis sie selbst nicht mehr konnte. Dies war der Zeitpunkt, an dem Jimmy hinzu kam. Er war hartnäckig, hatte nicht selten mit fragwürdigen Methoden seinen kleinen Bruder zum Reden animieren wollen und es schließlich auch geschafft.

„Ich habe bloß Angst dich zu verlieren."

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt