Spiegelbilder der Nacht

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Genau betrachtet sich Patrick in dem Spiegel.
Seine Falten, die sich in den letzten Wochen eindeutig vermehrt auf sein Gesicht gelegt haben, seine blasse und fahle Haut, die der eines Geistes zu gleichen scheint, ihre eigene Geschichte erzählt. Nicht zum Schluss bleibt er jedoch, wie so oft, an seinen Augen hängen. Seine Augen, die jeglichen Schein und all das Funkeln verloren haben, das er sich in den letzten Jahren so mühsam zurückgeholt hat. Das Funkeln, für das es sich lohnte weiterzumachen, nicht aufzugeben. Wie hypnotisiert starrt er in den Spiegel, geradewegs in seine Augen, in denen sich ein Film der letzten Jahre abzuspielen scheint. Hunderte von Konzerten, gemeinsame Abend mit seiner Band, seinen Geschwistern und mit Joelle fliegen in ihnen nur so vorbei, als wäre das Alles nur ein Finger schnipsen gewesen. Für einen kurzen Moment laut und doch zu schnell vorbei, um seine volle Aufmerksamkeit darauf richten zu können. Durch gläserne Augen starrt er weiterhin auf sein Spiegelbild, dessen Augen nun vollends schwarz werden und der Film der letzten Jahre in der Dunkelheit untertaucht, nicht mehr zu sehen und auch nicht mehr zu erahnen ist. Patrick weicht ein paar Schritte zurück, doch gewinnt nicht an Abstand. Das Spiegelbild scheint ihn zu verfolgen. Die Realität scheint ihn zu verfolgen. Egal wie viele Schritte er in die andere Richtung setzt, wie sehr er auch versucht seine Mauer wieder zu errichten, seinen Schein wieder zu bewahren. Er kann nicht fliehen, nicht vor dem Film und schon gar nicht vor der Dunkelheit, die diesen in sich gefangen hält. Eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel und rinnt glitzernd seine Wange hinab. Über seine blasse Haut, die so nur noch mehr zur Geltung kommt und keinen übersehenden Blick zulässt. Immer weiter weicht Patrick zurück, bis er mit seinem Rücken anstößt und sich für einen kurzen Moment versucht an der flachen Wand festzuhalten. Er schließt seine Augen. Den Blick in den Spiegel kann er wirklich nicht ertragen. Zu laut schreit dieser Anblick nach Hilfe, gleichzeitig aber auch nach Freiheit und Ruhe, um das alles alleine auszusitzen.

Erschrocken lässt er seine Augen wieder auf gleiten, als er eine kalte Hand auf seiner Schulter wahrnimmt. Joelle. Sie steht vor ihm, betrachtet ihn ruhig und versperrt ihm somit den Blick in den Spiegel, der unmittelbar hinter ihr seinen Platz findet. Patrick kann nicht verhindern, dass sich nun auch die restlichen Tränen ihren Weg über seine Wange bahnen, während er seinen Blick nicht von ihr löst, in ihre funkelnden Augen blickt, die gleichzeitig so viel Verständnis wie auch Missverständnis ausstrahlen. Die ihn in die Knie zwingen würden, würde er nicht den letzten Halt an der Wand hinter sich finden. Zitternd lässt er eine Hand an dieser hinuntergleiten und greift bedacht nach Joelles freier Hand, die seine sofort mit ihrer umschließt. Die Kälte scheint förmlich in Patrick hinauf zu kriechen und doch fühlt es sich keinesfalls unangenehm an, eher vertraut.
„Darf ich dir etwas zeigen?", ihre Worte lösen eine Gänsehaut auf seinem ganzen Körper aus. Ihre Stimme, die so vertraut und doch unglaublich fremd in seinen Ohren widerhallt. Er nickt langsam und schluckt schwer, als sie einen Schritt zur Seite tritt, ihre Hand von seiner Schulter löst und auch seine Hand aus ihrer gleiten lässt. Unsicher blickt Patrick sie an, bis Joelle zu dem Spiegel vor ihnen deutet und Patrick somit schließlich wieder in diesen blicken lässt. In die Realität. In die Realität, in der Joelle nicht an seiner Seite steht, in der die Wirklichkeit ganz anders aussieht. Doch etwas ist anders. Patrick lächelt. Zumindest sein Spiegelbild. Langsam tritt er wieder ein paar Schritte nach vorne, löst sich von dem klitzekleinen Halt der Wand, um sein Spiegelbild erneut genauer betrachten zu können. Seine Augen sind noch immer in ein dunkles Tuch gehüllt, durch das die vergangenen Jahre nicht einmal ihren Schein in die Gegenwart werfen können. Zögernd dreht Patrick sich wieder zu Joelle herum, erblickt dabei aber die tausend anderen Spiegel, die um ihn herum stehen und ihn fast zu erdrücken scheinen. Aus jeder Richtung spiegelt er sich. Er, oder einer seiner Gedanken.

„W..was soll das alles hier?", hakt er stotternd nach, während er seinen Blick noch immer in die Runde der vielen Spiegel gleiten lässt.
„Sieh dich an. Wirklich. Welcher dieser Spiegel spiegelt dich? Mit allem drum und dran?"
Suchend sieht Patrick sich um. Tausendmal blickt er sich selbst entgegen. Weinend, lachend, wütend, genervt.
„Wahrscheinlich keiner.", gibt er leise zurück, während er sich zu Joelle richtet und seinen Blick an sie heftet. Zu überfordert ist er mit dem Anblick seiner restlichen Umgebung.
„Weißt du was dich wirklich widerspiegelt? Dein Inneres?"
Ein paar Schritte geht sie auf Patrick zu, nur um ihre Hand auf seine Brust zu legen. Irritiert blickt er auf ihre Hand, bevor er seinen Blick hebt und ihr direkt in die Augen sieht.
„Das machst nur du, du allein. Kein falsches Lächeln im Spiegel, hinter dem sich so viele Gefühle und Gedanken verkriechen können.", sie deutet auf den Spiegel, dessen Spiegelbild ihm sofort wieder entgegenlächelt. Mit dunklen Augen und einem aufgesetzten Lächeln, das Patrick sich selbst nicht abkaufen würde.
„Glaubst du es wird dadurch einfacher? Glaubst du wirklich, dass du mit diesem aufgesetzten Lächeln weit kommst, dir selbst irgendwann diese Lüge abkaufen wirst? Patrick, sieh dich an. Du bist kaputt."
„Ja, ja vielleicht bin ich das und weißt du warum? Weil ich jeden Tag in den Spiegel blicken muss. In das Gesicht von dem Mann, der dich nicht gerettet hat, der nur auf sein eigenes Wohl aus war. Der dich getötet und mir damit jeglichen Lebenssinn genommen hat.. Verdammt Joelle, ich habe nicht nur dich, sondern auch mich vollkommen aus dem Leben gerissen. Aus dem Leben, das wir beide nicht mehr zurückbekommen werden und weißt du was? Genau das ist es, was es so schwer macht. Ich kann das nicht mehr. Nicht für etwas kämpfen, für das es sowieso kein Happy End geben wird, weil das hier eben kein doofes Märchen ist, in dem alle glücklich bis an ihr Lebensende leben, wenn sie nicht gestorben sind! Ich habe dich getötet, du bist gestorben und ich mit dir."
Patrick richtet seinen Blick wieder zu ihr, während sich erneut ein paar Tränen aus seinem Augenwinkel hervor pressen. Stumme Tränen, aber trotzdem ehrliche, die Joelle ein leichtes Lächeln auf die Lippen zaubern, ehe sie wieder ein paar Schritte zurückweicht und sich dem Spiegelbild von Patrick zuwendet, das noch immer sein falsches Lächeln im Gesicht trägt.
„Und genau das ist es, was ich von dir möchte. Setze dich damit auseinander, rede darüber und verstecke dich nicht hinter diesem Lächeln, das dir nicht mal ein Blinder abkaufen würde.", sind die letzten Worte die ihren Mund verlassen, ehe sie ausholt und mit ihrer Faust das Spiegelbild zerstört. Sofort erhellt das laute Klirren den Raum und der Spiegel zerspringt in tausende von Teilen, weshalb Patrick seine Augen zusammenkneift.


Panisch schreckt er aus seinem unruhigen Schlaf auf und starrt in die Dunkelheit, die in seinem Zimmer zu schlafen scheint. Schwer atmend bleibt er auf dem Bett sitzen und streicht sich schwach über sein Gesicht, das von seinen Tränen regelrecht überflutet wird. Einen Moment bleibt er so sitzen, ehe er wenigstens das kleine Licht auf seinem Nachttisch anschaltet, um nicht vollends ins Leere zu starren. Zwar macht das Licht die Wand gegenüber nicht weniger leer, aber wenigstens kann er nun sehen, was er da eigentlich gerade anstarrt. Verzweifelt versucht er seine Tränen und sein Atem in den Griff zu bekommen, bleibt dabei jedoch mehr als erfolglos. Kraftlos lässt er sich wieder in sein Kissen fallen und blickt an die Decke, die seinen Augen auch nicht die erwünschte Beschäftigung bieten kann. Wieso Träumt er plötzlich wieder? Wieso jetzt, wieso in dieser Nacht? Seufzend schlägt er seine Hände über seinem Gesicht zusammen und versucht seine Gedanken wenigstens ein wenig unter Kontrolle zu halten. Doch sie rauschen an ihm vorbei, sind viel zu laut. Wie kann es so schwer sein, die Mauer um sich herum wieder aufzubauen, wenn diese erst einmal zu Fall gebracht wurde? Überfordert richtet er sich wieder auf und spürt, wie seine Unruhe sich immer weiter in seinen Körper vor frisst. Seine Hände und auch seine Beine zittern. Trotzdem hievt er seine viel zu schwer scheinenden Beine aus dem Bett hinaus und bleibt einen Moment auf der Kante des Bettes sitzen, ehe er vorsichtig aufsteht und darauf hofft, dass seine Beine aus Wackelpudding nicht sofort nachgeben. In seinem Bett hält ihn auf jeden Fall nichts mehr, im Gegenteil. Unschlüssig steht er mitten im Raum und blickt zu der Tür. Zu der Tür, durch die Thomas heute Nacht keinen Schritt setzen wird und doch hofft Patrick, dass er ihm einen privaten Nachtbesuch abstatten wird. Doch dies wird nicht passieren. Panik steigt in ihm auf, sein Atem wird noch unregelmäßiger und sein Zittern unkontrollierbar. Schnell setzt er einen Schritt vor den anderen um sich auf der anderen Seite der Bettkante niederzulassen, während sich alles um ihn dreht. Die Enge der Klinik ist plötzlich wieder greifbar und würde Patrick es nicht besser wissen, würde er nun versuchen aus diesem Gebäude zu kommen. Raus aus seinen Gedanken, die die unterschiedlichsten Szenarien durchgehen und Patricks Unruhe dadurch nicht besser machen. Langsam lässt er seinen Kopf in seine Hände sinken und merkt erst jetzt, wie unaufhörlich und stumm seine Tränen über seine Wangen rollen. Die dunkle Wolke, die er das ganze Wochenende über verdrängt hatte, findet nun ihren Weg zu ihm und das in einem Ausmaß, mit dem er nicht gerechnet hat. Langsam nimmt er seinen Kopf wieder nach oben und blickt sich in dem Raum um, der immer kleiner, enger und bedrohlicher zu werden scheint. Kurzentschlossen drückt er auf den kleinen Notknopf neben seinem Bett, bevor es endgültig aus ihm herausbricht und die Welle aus Trauer, Schmerz, Wut und Hoffnungslosigkeit ihn regelrecht überrollt. Er lässt sich auf den Boden sinken, lehnt seinen Kopf an die Kante des Bettes und hofft, dass seine Gedanken bald ihr wildes durcheinander geregelt haben. Kurz blickt er zu der Tür auf, als durch diese das helle Licht des Flures in den Raum scheint, gleich darauf aber wieder verschwindet und auch sein Blick sich wieder senkt.
„Herr Kelly?...", die restlichen Worte nimmt Patrick nicht mehr wahr. Zu sehr schreit sein Inneres nach Aufmerksamkeit, tyrannisiert ihn förmlich und wirft ihn vollkommen aus dem Konzept. Thomas und auch Joelle haben recht. Er kann kein Klebeband auf seine Wunden kleben, dies mit einem Lächeln überspielen und so tun, als wäre alles okay mit ihm. Denn das ist es nicht. Er wird daran zerbrechen und doch nimmt er dieses Risiko in Kauf.

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt