Neustart

298 18 1
                                    


Gedankenverloren beobachtet Patrick die Regentropfen, die mit einem dumpfen Geräusch an die Scheibe fallen und an ihr zerlaufen. Das leise Trommeln der Tropfen klingt schon fast wie ein Applaus und am liebsten würde er gerade vor die Tür gehen und sich von diesem Applaus tragen lassen. Von dem Applaus, der nicht da ist und auch nie wieder da sein wird. Von dem Applaus, den er mit einem einzigen Satz für immer ausgeloschen hat. Von dem Applaus, den er nie wieder bekommen wird.
Patrick schluckt. War es die richtige Entscheidung seinem Manager so vor den Kopf zu stoßen? Seinen Fans, seiner Band? Sich einfach aus der Öffentlichkeit zu entziehen, ohne eine Antwort auf die vielen Fragen zu geben? Ohne abzuliefern und es allen recht zu machen? Rückgängig kann er es nun auch nicht mehr machen. Pino hat bereits alles für nächstes Jahr abgesagt, die Jungs der Band wissen ebenfalls Bescheid und versuchen Patrick rund um die Uhr ans Handy zu bekommen. Doch genau dies umgeht er gekonnt. Sein Handy liegt ausgeschaltet auf seinem Bett, tief unter seiner Bettdecke vergraben und das wird sich über die Weihnachtsfeiertage auch nicht ändern.

„Die Kinder haben sich sehr gefreut mal wieder mit ihrem Onkel Heiligabend zu verbringen.", schmunzelt Maite in ihre Kaffeetasse, blickt dabei aber nicht von ihrer Zeitung auf. Patrick zuckt ein wenig zusammen, muss dann aber auch lächeln. Der gestrige Abend hat sich als entspannter herausgestellt, als er ursprünglich erwartet hatte. Sein erstes Weihnachten ohne Joelle. Nicht in Bayern im tiefsten Schneegestöber. Ohne Bowie.
„Paddy?"
Erneut zuckt Patrick zusammen, löst seinen Blick von den Regentropfen an der Scheibe und blickt zu seiner Schwester, die ihn abwartend mustert.
„Sorry.. ja, ich fand's auch schön!", erwidert er schnell und fährt sich verlegen durch seine Haare. Wissend lächelt Maite, widmet sich dann aber wieder ihrem Frühstück und blättert in ihrer Zeitung weiter. Patrick verschränkt seine Arme vor seiner Brust und lässt sich gegen die Stuhllehne fallen, während sein Blick sich wieder seinen Weg aus dem Fenster sucht. Erst jetzt wird er auf das rege Treiben hinter den Regentropfen aufmerksam. Ein großer Umzugswagen steht am anderen Ende der Straßenseite und wird von vielen Helfern beladen.
„Wieso ziehen deine Nachbarn während der Feiertage aus?", hakt er irritiert nach und spürt den Blick seiner Schwester auf sich, während er noch immer nach draußen sieht.
Maite schluckt schwer und zieht somit den Blick ihres Bruders auf sich, bevor sie nach ihrer Tasse greift und einen großen Schluck daraus trinkt. Wie soll sie ihm das erklären? Sich erklären?
„Paddy.. das ist Marias Haus.", bringt sie schließlich nur leise heraus, stellt ihre Tasse ab und lässt ihren Blick an dieser kleben. Ihrem Bruder möchte sie gerade wirklich nicht in die Augen blicken.
„Und warum zieht sie um? Ich dachte..-"
„Sie zieht nicht um.", unterbricht Maite ihn mit so viel Nachdruck in ihrer Stimme, dass der Blick in ihre tränennassen Augen eine Antwort auf alles gibt. Patrick beißt sich auf seine Unterlippe, ehe er seinen Blick wieder auf den großen Umzugswagen und schließlich auf die Tropfen richtet. Oder vielmehr auf das, was von ihnen an der Scheibe übrig bleibt. Eine nasse Bahn von einem verlorenen Leben, die, bei dem Versuch sie zu trocknen, nur noch mehr Feuchtigkeit und Nässe hinterlässt. Solange, bis der Tropfen nicht mehr da und auch seine komplette Laufbahn irgendwann verschwunden ist.

„Wann?", möchte Patrick leise wissen und sieht zu einem der Tropfen, der gerade auf der Fensterscheibe gelandet ist. Sofort zieht er seine Spur, kreuzt die der anderen Tropfen und doch verläuft auch er nach viel zu kurzer Zeit. Wie Joelle, wie Maria. Sie ziehen ihre Spuren durch das Leben der anderen Menschen. Spuren, die länger bleiben als ihr Leben es ihnen erlaubt.
„Vor knapp einem Monat. Sorry, ich hätte..-"
„Schon gut, ich hätte es mir auch nicht gesagt.", unterbricht Patrick seine Schwester ungewohnt monoton.
„Kommst du damit klar?"
„Kommst du es?", stellt er sofort die Gegenfrage und blickt zu seiner Schwester, welche bloß mit den Schultern zuckt und ihre Tränen von den Wangen streicht.
„Trauer ist wohl das normalste der Welt.", fügt sie lächelnd hinzu und auch Patrick erwidert ihr Lächeln kurz, ehe er nach ihrer Hand greift und diese fest drückt.
„You'll be there for me like I'll be there for you."
„Thanks.", erneut streicht Maite sich ihre Tränen von den Wangen, bevor ein Hupen die Aufmerksamkeit der beiden fordert.
„Jimmy.", seufzt Patrick nach einem Blick aus dem Fenster und steht auf, um seinem älteren Bruder die Tür zu öffnen.
„Bereit für das weihnachtliche Geschwistertreffen?", fragt Maite und klingt dabei gespielt euphorisch. Patrick schmunzelt. Bereit kann man für so einen Haufen an Kellys wohl nicht sein. Die Geschwister hatten sich fest vorgenommen am ersten Weihnachtsfeiertag nur unter sich zu feiern. Keine Kinder, keine Frauen oder Männer. Bloß die Geschwister. Und Angelo.


Ein wenig erleichtert atmet Patrick die kühle Winterluft ein. Der Regen hat sich mittlerweile in dicke weiße Schneeflocken verwandelt, die sanft vom Himmel fallen und den Vorgarten seiner Schwester mit einer leichten Schneeschicht bedecken. Fast schon automatisch tragen seine Beine ihn auf den Bürgersteig. Der Umzugswagen ist weg, gibt nun den Blick auf Marias Haus frei. Kein Licht brennt. Selbst in dem kleinen Vorgarten ist keine Weihnachtsdekoration zu sehen, nicht mal eine Lichterkette um die Hecke gelegt. Das Haus steht einfach verlassen da, mitten in dieser belebten Straße, in der aus allen anderen Häusern das Lachen der Familien, begleitet von einem hellen Licht, dringt. Es steht so verlassen da, wie es auch Maria war. Verlassen von ihrem Lebenssinn, ihrem Lebenswillen. Verlassen von allem, was es einst lebenswert machte. Sein Haus ist genauso leer, verlassen und dunkel.
Patrick seufzt, ehe er seinen Blick abwendet und die Straße hinunterblickt. Kein einziger Mensch ist auf der Straße zu sehen. Nur er steht in der Dunkelheit und der Kälte alleine im rieselten Schnee und versucht der Enge seiner Geschwister irgendwie zu entkommen. Ihren Blicken. Sein Kopf quillt förmlich über von all den Gedanken und zum Schluss war seine aufkommende Nervosität wohl nicht mehr zu übersehen. Das Lachen seiner Geschwister, all ihre Stimmen, die durcheinander und unwahrscheinlich laut etwas zu sagen hatten, hat er nicht länger ausgehalten und sich kurz entschuldigt.
Heftig zuckt Patrick zusammen, als sich von hinten eine warme Hand auf seine Schulter legt.
„Musst du mich so..-", er dreht sich zu der Person um, bricht dann aber ab. Er blickt geradewegs in die blauen Augen von Angelo.
„Erschrecken? Ja, I'm sorry.", beendet sein jüngerer Bruder schmunzelnd den Satz und nimmt seine Hand wieder zu sich, während Patrick sich von ihm weg dreht und seinen Blick wieder die Straße hinunter gleiten lässt.
„Was willst du?", hakt er nach einer Weile leiser nach, sieht Angelo aber nicht an.
„Ich bin gerade wahrscheinlich der Letzte den du sehen willst, aber.. können wir reden? Nur ganz kurz?", bittet er seinen älteren Bruder. Aus Angelos Stimme ist jeglicher Vorwurf, jede Art von Wut nicht mehr zu hören. Fast schon zögerlich spricht er diese Bitte aus und wartet angespannt auf die Antwort seines Bruders.
„Wenn's sein muss.", erwidert Patrick und schaut nun zu Angelo, der seinen Blick sofort auf den Boden heftet.

„Ich habe viel mit Maite gesprochen als du... naja, als du weg warst. Ich weiß nicht ob ich bereit bin dir zu verzeihen und du wirst auch jetzt keine Entschuldigung von mir für meine Worte zu hören bekommen, aber ich möchte das nicht mehr. Diese ständige Spannung unter uns, die Umplanug weil wir es nicht schaffen einen Abend zusammen zu verbringen und das alles. Paddy, du fängst gerade neu an und ich würde das auch gerne versuchen. Ich möchte für dich da sein, als Bruder. Vielleicht können wir beide gemeinsam auch so einen Neustart wagen. Auch, wenn es nie wieder so sein wird wie früher.", erst jetzt richtet Angelo seinen Blick wieder zu seinem Bruder, der ihn noch immer ruhig ansieht. Patrick vertraut dieser Ruhe nicht, nickt aber nur und wendet sich der Haustür zu. Angelo bleibt irritiert zurück und sieht Patrick nach, bevor dieser sich noch einmal zu seinem kleinen Bruder umdreht und tatsächlich ein leichtes Lächeln zu Stande bringt.
„Lass mich erst mal mit meinem Neustart zurechtkommen. Danach können wir das gerne versuchen."
Auch Angelo lächelt nun und betritt hinter Patrick wieder das warme Haus.
Sofort kommt die Enge in Patricks Brust zurück und am liebsten würde er seinen Kopf mit einem einfachen Knopfdruck ausschalten. Was erhofft Angelo sich davon? Wie lange hat es wohl gedauert, bis Maite ihn so weit gebracht hatte?
„Paddy?", Patricia klingt irritiert und reißt ihren jüngeren Bruder somit wieder in die Realität. Angelo hat sich bereits wieder an den Tisch gesetzt, doch Patrick steht wie angewurzelt in der Tür und blickt ins Leere. Alle Blicke richten sich auf ihn und plötzlich kommt ihm die bloße Anwesenheit seiner Geschwister unglaublich belastend vor.
„Ähm, ich gehe nach oben. Mir ist nicht so gut.", entgegnet er hastig, dreht sich um und ist schneller verschwunden, als auch nur einer der Geschwister reagieren kann.

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt