Boden der Tatsachen

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Schon lange hat sich die Nacht mit all ihren Dämonen über die Klinik gelegt. Draußen tobt ein heftiges Sommergewitter. Der Regen peitscht nur so gegen die Scheiben und wird von dem Wind bestärkt, der lautstark an den Mauern vorbeizieht und somit eine mystische, gleichzeitig aber auch unheimliche Atmosphäre hinterlässt.
Patrick bekommt von all dem nichts mit. Bereits vor zwei Stunden hat er seinen Kampf um den Schlaf aufgegeben und sich hilflos der Unruhe hingegeben, die nun ihr Unwesen in seinem Körper treibt und ihn regelrecht in die Enge zwängt. Anfangs war er noch nervös durch den viel zu klein scheinenden Raum gelaufen, doch nun hat sein Körper vollends die Kontrolle verloren und sich in die hinterste Ecke verkrochen. Seine zitternden Beine hat er an seinen Körper gewinkelt und seine Arme vor der Brust verschränkt, während er seinen Kopf an die Wand lehnt und seine Augen geschlossen hält. Der Tag, das Zusammentreffen mit seinen Geschwister. Alles scheint plötzlich viel zu viel zu sein und seine Gedanken regelrecht zu überfluten. Eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel und perlt unweigerlich an seinem Kinn ab, nur um sich von dort einen Weg auf seinen Arm zu bahnen. Ein leichter, aber durchaus angenehmer Schmerz breitet sich in Patrick aus, weshalb er die Augen öffnet und auf seinen Arm hinabblickt. Die Träne vermischt sich mit dem Blut auf diesem und bleibt nicht lange die einzige, die sich auf diesen Weg begibt. Zitternd fährt er sich über sein nasses Gesicht und kann dabei nicht verhindern, dass ein lautes Schluchzen aus ihm herauskriecht. Was ist in ihn gefahren? Was hat ihn soweit getrieben, dass er seinen inneren Druck und die Unruhe bereits damit bekämpft, seine Arme aufzukratzen?

Wütend krallt Patrick sich in seine Haare und stützt seine Ellenbogen auf seinen Knien ab. Seine Gedanken lassen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Die Gedanken, nicht zuletzt aber auch die unheimlichen Vorwürfe die sich in seiner Magengrube breit machen und nur darauf warten ein weiteres Mal heftig zuzutreten. Verzweifelt versucht er sich auf seine unregelmäßige Atmung zu konzentrieren und so wenigstens das letzte bisschen Kontrolle in seiner Hand zu bewahren. Doch es gelingt nicht. All das, was er zu kontrollieren vermag, stellt sich nun gegen ihn und kontrolliert ihn. Sein Handeln, sein Denken. Seufzend lehnt er seinen Kopf wieder an die Wand und schließt seine Augen, während seine Hände fast schon automatisch zu seinen Unterarmen des jeweils anderen Arm gleiten. Er kann dem ganzen Druck nicht standhalten. Dem Druck, der sich in der Nacht auf ihn legt und nicht schlafen lässt. Dem Druck, den Schuldgefühlen und den unglaublichen Vorwürfen. Patricia ist am Ende, Jimmy versucht stark zu sein und Pino hat alles abgesagt, ohne einen plausiblen Grund dafür zu nennen. Wissen die Jungs mehr? Christian, Basti, Hendrik und der Rest der Crew, sowie der Band? Hat Pino ihnen gesagt was los ist oder sind auch sie unwissende Begleiter? Patrick hatte sich geschworen nie wieder so viel Unruhe in sein und das Leben der anderen zu bringen und nun? Wo ist er? Wo sind alle anderen? Patricia hat den Kampf gegen die Dämonen der Nacht vermutlich auch längst verloren und sitzt wach in der Küche. Jimmy schläft tief und fest, während Pino vermutlich noch immer vertraglich alles regelt. Die Jungs warten wahrscheinlich auf eine Nachricht von Patrick, gleichzeitig müssen aber auch sie alles weitere klären. Wie viel dann doch an dem Ausfall einer einzelnen Person hängt. Bei Patricia bleiben seine Gedanken jedoch schließlich hängen. Sie macht sich Vorwürfe. Vorwürfe über Dinge, die sie nicht hätte ändern können. Sie sitzen im selben Boot.

Erst durch den lauten Knall des Donners wird Patrick ein wenig zurück in die Gegenwart gerissen. Dorthin, wo seine Schuldgefühle nicht die Vergangenheit ändern und seine Ängste und Sorgen die Zukunft nicht beeinflussen können. Dorthin, wo die Dunkelheit sich immer tiefer in ihn hineindrängt und dafür sorgt, dass seine inneren Dämonen sich an ihr erfreuen und zu Wort kommen. Dorthin, wo Thomas bereits vor ihm hockt und seine mit Blut übersäten Hände vorsichtig in seine nimmt. Patrick hält seine Augen noch immer geschlossen, spürt auch die Berührung von Thomas nur leicht auf seiner Haut. Viel zu sehr schreit sein Inneres gerade nach Aufmerksamkeit. Thomas Worte dringen erst gar nicht zu ihm durch. Die Worte, dass alles gut wird. Dass alles vorbei geht. Dieser Gedanke würde bei Patrick ohnehin keinerlei Halt finde. Es wird nicht alles gut werden. Er wird über diese Situation reden müssen, sie noch einmal durchleben. Wieder pressen sich vereinzelte Tränen aus seinen Augenwinkeln hervor und rinnen seine Wange im Eiltempo hinab. Er muss hier raus. Raus aus dieser Enge und raus aus diesem Raum, in dem er weder sich selbst, noch alles um ihn herum erträgt. Thomas hockt jetzt bloß ruhig vor ihm. Noch immer hält er seine Hände in seinen und sieht förmlich den inneren Kampf gegen ihn selbst, den Patrick wohl gerade zu verlieren scheint. Er hat sich bereits darauf eingestellt, dass irgendwann dieser Fall kommen wird. Patricks Zustand verbesserte sich zwar, aber solange noch immer diese große Last und seine vielen Vorwürfe unausgesprochen in ihm schlummern, ziehen diese ihn immer wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Und auf diesem ist er gerade eindeutig mit zu viel Geschwindigkeit gelandet. Noch immer hebt und senkt sich sein Brustkorb zu schnell und auch der Kragen seines T-Shirts ist bereits feucht von seinen Tränen. Ganz abgesehen von dem ganzen Blut, das sich ebenfalls auf seinen Klamotten breit macht.

„Paddy, sieh mich bitte an.",durchbricht Thomas sanft die Stille, erhofft sich darauf jedoch keine Reaktion.
Patrick nimmt seine Worte klar und deutlich wahr und blinzelt kurz gegen seine Tränen an, bevor er seinen Blick erst in den Raum gleiten lässt und dann zu Thomas sieht, der seinen Blick für einen Moment ruhig erwidert. Patrick wendet zuerst seinen Blick wieder ab. Er kann Thomas einfach nicht so lange in die Augen sehen und Schweigen.
Dieser lässt seinen Blick erneut auf Patricks Arme gleiten und spürt, dass der jüngere diesem folgt und mehr zu zittern beginnt, bevor er versucht seine Arme zu entziehen. Thomas umschließt seine Hände fester und schaut Patrick wieder an, der noch immer regelrecht auf seine Arme starrt. So, als würde ihm erst jetzt bewusst werden, was er da getan hat.
„...I..Ich..",bringt Patrick zitternd hervor, wird aber von Thomas unterbrochen, der seine eine Hand loslässt, nur um mit seinem Zeigefinger Patricks Kinn nach oben zu drücken und ihm in die Augen zu sehen. Sofort scheint er die unausgesprochenen Worte lesen zu können. Ein kalter Schauer läuft Patricks Rücken hinab, ehe er Thomas Hand sanft von seinem Kinn weg drückt und wieder nach unten sieht. Ob er seinem Blick wohl jemals standhalten kann?
Thomas schüttelt langsam seinen Kopf und mustert Patrick noch ein wenig, bevor er aufsteht und sich auf der Bettkante niederlässt. Er weiß, dass er ihm wohl gerade einfach seinen Raum lassen muss, ihn gleichzeitig aber nicht zu tief in seine Gedanken abdriften lassen darf.
Es dauert einen Moment, bis die Zimmertür sich öffnet und das grelle Licht des Flures das kleine, gelbliche Licht des Raumes verdrängt. Patrick kneift seine Augen zusammen und für einen Moment keimt in ihm die Idee auf einfach zu flüchten. Weit weg zu rennen und nie wieder zu kommen. Dieser Gedanke löst sich jedoch direkt wieder in Luft auf, als die Tür ins Schloss fällt. Vorsichtig hebt er seinen Blick und schaut zu Thomas, der seinen Blick nicht erwidert sondern sich lediglich dem erste Hilfe Koffer zuwendet, den die Ärztin ihm gebracht hat.

Missmutig und langsam drückt Patrick sich an der Wand hinauf und bleibt einen kurzen Moment auf seinen zitternden Beinen stehen, ehe er einige unsichere Schritte auf das Bett zu macht und sich ebenfalls auf der Kante niederlässt. Thomas beobachtet ihn und kann sein leichtes Lächeln nicht für sich behalten, als Patrick ihm bereitwillig seine Arme entgegenstreckt, seinen Blick jedoch vollends ins leere wirft. Er nimmt seine Handlung selbst wie durch Watte wahr. Fühlt sich, als könne er sein eigenes Tun nicht kontrollieren und doch lässt er es einfach über sich ergehen. Heiße Tränen bahnen sich ihren Weg über seine Wange, während er seinen Glos im Hals versucht runterzuschlucken und auf Thomas Hände blickt. In seinem Kopf überschlägt sich alles und er würde am liebsten mit dem Kopf durch die Wand, sein Körper lässt diesen Tatendrang aber regungslos an sich vorbeiziehen.

„Thomas, ich kann nicht mehr.",gibt Patrick fast tonlos von sich und lehnt seine Stirn an Thomas Schulter, der mittlerweile seine beiden Arme vorsichtig verbindet.
„Hey, ich möchte so etwas nicht von dir hören. Wir bekommen das zusammen hin."
„Wir bekommen das einen scheißdreck hin! Ich will nicht mehr!"
Patricks Stimme bebt, während er seine Arme wieder zu sich nimmt und aufsteht, um aus dem Fenster in den Himmel zu sehen. Dicke Gewitterwolken haben sich vor den wunderschönen Nachthimmel gelegt und doch funkeln einige Sterne hinter ihnen hervor. Auf Patricks Lippen schleicht sich ein Lächeln und doch laufen seine Tränen unaufhörlich über sein Gesicht. Nicht alle Sterne gehören in den Himmel. Joelle ist einer von ihnen. Sie gehört auf Erden. Sie gehört zu ihm. Vorsichtig legt Patrick seine Hand an die Fensterscheibe und lässt dann seine Stirn folgen. Wie gerne er doch jetzt bei ihr wäre. Wie gerne er in ihren Armen liegen würde, gesagt bekommen würde, dass alles gut wäre und er seinen Dickschädel ausschalten solle.
„Paddy, lass solche Äußerungen. Du weißt-"
„Ich weiß, dass du mich dann zurück auf die geschlossene stecken musst. Und weißt du was? Es ist mir vollkommen egal! Das bringt sie auch nicht zurück!",unterbricht Patrick ihn lautstark und sinkt, mit seinem Rücken zur Wand, wieder zu Boden. Sein Körper kann die benötigte Kraft nicht mehr aufbringen.

„Nichts und Niemand bringt sie dir zurück.",bestätigt Thomas ihn leise. Patrick lächelt gequält, ehe er seinen Kopf wieder in seinen Händen vergräbt, an denen noch immer ein wenig getrocknetes Blut seinen Platz findet. Es ist alles zu viel für ihn. Seine innere Mauer wird regelrecht mit einer Abrissbirne zertrümmert und die einzelnen Brocken fliegen mit einer unheimlichen Kraft durch seinen Kopf.
„Was ist in der Nacht passiert, Paddy?"
Patrick schweigt einen Augenblick, gibt somit aber eine Antwort auf Alles, bevor er Thomas in die Augen sieht.

„Ich habe sie umgebracht."

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt