Hilflos und ohne Orientierung irrte ich durch den Wald, der sich kilometerweit in jede erdenkliche Richtung zu strecken schien. Beißende Kälte ließ meine nackten Füße und auch meine Hände taub und unnatürlich weiß werden. Bei jedem Atemzug entwich eine kleine Nebelwolke aus warmen Atem meinem Mund. Ich musste mich zwingen meinen Blick zu heben, um nach Anzeichen einer Zivilisation Ausschau zu halten, doch alles was ich zu Gesicht bekam waren Massen an Schnee und dicht wachsende Kiefern. Ein dünnes Rinnsal von Blut klebte kalt und getrocknet auf meiner Haut und führte von meiner Schläfe zu meinem Kinn herunter.
Es war das zweite Mal gewesen, dass ich aufgrund der Kälte und meines physischen Zustandes für wenige Momente ohnmächtig wurde. Beim Fall stieß ich mir den Kopf an einer Wurzel an, über die ich nur Sekunden zuvor hinübergestiegen war. Lange würde ich das nicht mehr aushalten können, das wusste ich. Doch noch siegte der Wille, von diesem schrecklichen Ort hinter mir wegzukommen, über die Erschöpfung. Die Zeit verging langsam und es war egal, wie viele Schritte ich in dem Schnee machte, wenn Hundert weitere noch auf mich warteten. Mit schwerem Atem lehnte ich mich gegen den nächstbesten Baum, als die Sicht vor meinen Augen erneut zu verschwimmen drohte.
Bitte nicht, ich will hier nicht sterben. Ich schloss meine Augen, konzentrierte mich auf meine Atemzüge. Eins, zwei, drei. Als ich meine Augen wieder öffnete, stieß ich durch meinen Mund eine letzte, große Atemwolke aus und sah direkt in den Wald vor mir. In dem Moment, in welchem ich mich von der starken Kiefer abstoßen wollte um meinen Weg fortzuführen, ertönte ein lautes Knacken. Einige Meter vor mir schreckten Vögel aus ihren Nestern und ein Eichhörnchen kletterte in Windeseile von dem Baum zu meiner linken. Es rannte mit seinem feuerroten Pelz über den Schneeteppich und verschwand zwischen zwei dichtbewachsenen Büschen.
Durch die Reaktion der Wildtiere wurde mir also ziemlich schnell bewusst, dass es sich um keins von ihnen handeln konnte. Ich drückte meinen Rücken gegen die Kiefer und war froh über den Schutz, den mir diese gab. Für einen Moment wich die Erschöpfung dem Adrenalin, welches meine Muskeln wärmte und mich schlagartig wach werden ließ, während ich ausharrte und in den Wald hinein lauschte. Alles war still, sogar die Tiere schienen den Atem anzuhalten, so wie ich es tat. Dann hörte ich das Knurren. Tief und aggressiv durchbrach es die Stille – und ich begann zu rennen. Blind nach vorne trat ich tiefe Spuren in den Schnee, die mein ohnehin nicht schnelles Tempo weiter verlangsamten. Doch ich ließ mich nicht beirren und rannte weiter. Mal nach links, dann wieder nach rechts versuchte ich mir einen Weg zwischen den dichten Bäumen hindurch zu bahnen, ohne mit einem von diesen zu kollidieren.
Schwere Schritte kamen näher und ich fühlte mich wie ein Reh auf der Flucht. Beute. Meine Lunge brannte und ich fühlte mich trotz der Angst von Kraftlosigkeit übermannt. Was auch immer es war, im nächsten Moment traf es mich hart an meiner Schulter und stieß mich so einige Meter zur Seite. Nur um Haaresbreite entging ich dem Zusammenprall mit einer großen Fichte. Ich streifte sie lediglich mit meiner bereits schmerzenden Schulter, als mein kurzer Flug auf dem mit Schnee und Tannennadeln bedeckten Boden endete. Von dort aus rutschte ich noch kurz weiter, ehe ich für einen Moment reglos liegen blieb. War es das jetzt? Meine Lunge fühlte sich an, als würde sie zerrissen und gleichzeitig zerquetscht werden.
„Bleib liegen, Menschenmädchen." Es war eine scharfe und kalte Drohung, die sich wie ein Messerstich anfühlte. Ich atmete tief ein und konzentrierte mich darauf, Luft in meine Lunge zu pumpen, während ich mit offenen Augen die tiefen Spuren sehen konnte, die mein Fall in den Schnee gedrückt hatte. Zunächst hob ich nur meinen Kopf und ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass ich liegen bleiben solle, dann sammelte ich meine Kraft und stützte mich mit den Armen auf dem Boden ab, um wenige Sekunden später auf meinen Füßen zu stehen. Zittrig und wankend, aber ich stand.
Ich sah in die Richtung, aus der ich die Stimme vernommen hatte, welche diejenige war, wo ich zur Seite gestoßen worden war. „Wenn du mich töten willst, zeig dich." Es kostete mich enorm viel Mühe, das Zittern meiner Stimme zu unterdrücken. Ein erneutes Knurren durchbrach die Stille, die nur eine Sekunde angedauert hatte. Ich war lebensmüde oder sterbesuchend, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Das knarzende Geräusch von gedrücktem Schnee ließ mich herumfahren. Vier riesige Pratzen mit großen und womöglich scharfen Krallen, die auf dem Boden aufkamen. Kastanienbraunes Fell, auf seiner Brust ein schwarzer Fleck. Und direkt vor mir war ein massiger und riesiger brauner Kopf der sich zu mir heruntersenkte, damit ich dem Wolf in seine bernsteinfarbenen Augen sehen konnte.
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Vollmond total - Violett
Werewolf▪️ 1. Teil der Vollmond Reihe▪️ Unwissen kann dich umbringen. Elisa fürchtet sich davor. Hunter scheint dieses Wort nicht in seinem Wortschatz zu haben.