Alte Erinnerungen

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Sichtweise Vincent

 ,, Verstehen Sie nicht? Sie können hier nicht rein.'' Immer noch diskutierte ich mit dem Beamten, der keine Gnade walten ließ. ,, Dann sagen Sie mir endlich, was passiert ist?', forderte ich ihn auf. ,, Ich darf Ihnen leider keine Auskunft geben.'', unbeeindruckt kehrte er mir den Rücken zu und verschwand wieder in der Wohnung. Ich bekam gar nicht mit, dass Franzi mich die ganze Zeit von der Treppe aus beobachtete. ,, Ist was mit Dag?'', fragte sie, als ich an ihr vorbeilief. ,, Keine Ahnung.'', antwortete ich genervt und ließ sie einfach stehen. Oben angekommen wählte ich Dags Nummer. Mailbox. Typisch, der Junge hat das Ding nie an, wenn es wichtig ist. Zögernd versuchte ich Lisa zu erreichen, doch auch sie ging nicht ans Telefon. Allmählich machte ich mir Sorgen. Die halbe Nacht lang versuchte ich einen der beiden zu erreichen. Ohne Erfolg. Am nächsten Morgen beschloss ich ins nächstgelegende Krankenhaus zu fahren, um nachzusehen, ob Dag vielleicht was passiert ist. Mit meinem Auto fuhr ich durch die überfüllte Stadt. Der Berufsverkehr war im vollen Gange. Einer der Gründe warum ich immer erst später aufstand. Langsam fuhr ich in die Tiefgarage des Parkhauses. Am Empfang erkundigte ich mich, ob ein gewisser Herr Kopplin stationär aufgenommen wurde und tatsächlich hatte ich Glück. ,, Zimmer B111, 6 OG'' , antwortete die freundliche Dame hinterm Glastresen. ,, Danke.'', sagte ich schnell und sprintete zum nächsten Fahrstuhl. Fast hätte ich einen älteren Herrn, der gerade mit Unterarmgehstützen um die Ecke bog, umgerannt. ,, Entschuldigen Sie, bitte.'', sagte ich und bekam ein verständnisloses Kopfschütteln zurück. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich. Ich wandte meinen Blick von ihm ab und wollte einsteigen. Doch dann sah ich Dag, wie er die Treppe heruntergelaufen kam. ,, Whynee, was machst du hier?'', fragte er. Erschrocken begutachtete ich seine Wunden. ,,Was ist passiert?'' Dag sah mich traurig an. ,, Felix war bei mir in der Wohnung.'' ,, Welcher Felix?'', fragte ich verwirrt. Nervös blickte Dag zur Seite und sprach ganz leise. ,, Lass uns mal rausgehen.'' Draußen setzten wir uns auf eine der Holzbänke und mein Kumpel zündete sich eine Zigarette an. ,, Nun erzähl schon.'', forderte ich ihn auf. ,, Der Felix, der uns damals die Pillen immer besorgt hat. Er war bei mir in der Wohnung.....'', Dag stockte. ,, Und weiter?'', fragte ich nach. ,, Er wollte sich an uns rächen, weil wir ihn an die Bullen verpfiffen haben. Dicker, Felix ist der Stalker!'' Ich hatte ja wirklich mit allem gerechnet, aber das ausgerechnet Felix hinter all dem steckt, das übertrifft alles. ,, Aber seine Haftstrafe läuft doch noch. Wie konnte er denn entkommen?'' Schulterzuckend zog Dag an seiner Kippe. ,, Warum habt ihr mir denn nicht Bescheid gesagt? Ich stand gestern Abend vor deiner Wohnung und überall liefen Polizisten durch die Gegend. Keiner wollte mir sagen, was los ist.'' Dag schaute mich traurig an. ,, Lisa.... sie liegt auf der Intensivstation. Sie war auch da, als er passiert ist. Felix hat ihren Freund damals umgebracht.'' Einfach so, knallte mein Kumpel mir die Nachricht an Kopf. Ich schluckte und versuchte seine Worte in meinem Kopf zu sortieren. ,, Ich muss zu ihr. Ich muss mit ihr reden.'', völlig verwirrt sprang ich von der Bank auf und wurde von Dag zurückgehalten. ,, Dicker, sie liegt im Koma. Die Ärzte wissen nicht, ob sie überhaupt wieder aufwachen wird. Ich war gerade eben bei ihr.'' ,, Was? Nein... Nein, das geht nicht. Ich muss ihr doch sagen, dass ich sie liebe. Ich muss mich bei ihr entschuldigen.''

Sichtweise Dag

 ,, Vincent, komm erst mal runter.'' hibbelig und völlig durch den Wind stand mein Kumpel vor mir. ,, Dag, ich muss zu ihr.'', flehend sah er mich an. Widerwillens stand ich auf. Schweigend liefen wir zur Intensivstation und betraten leise den Raum. Jedes Mal, wenn ich sie so sah, brach es mir das Herz. Whynee setzte sich zu Lisa und nahm ihre Hand. Plötzlich hatte er seine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle. Er fing an zu weinen. Schluchzend saß er dort und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. ,, Tue mir das nicht an. Ich brauche dich doch.'', sagte er zu ihr. Ich zog mich zurück und lief wieder nach draußen. Die zweite Kippe für heute glühte zwischen meinen Fingern. Nachdenklich starrte ich den Glimmstängel an. Dann hob ich meinen Blick und beobachtete die Menschen, wie sie an mir vorbeizogen. Jeder einzelne von Ihnen hat eine Geschichte. Nirgendwo ist der Grad zwischen Freude und Trauer so groß, wie in einem Krankenhaus. Einige kämpfen verzweifelt um ihr Leben, während im Raum daneben ein neues Lebewesen das Licht der Welt erblickt. Stolz halten dann die frisch gebackenen Eltern ihr Neugeborenes in den Händen und können ihr Glück kaum fassen. Wo ist da bitteschön die Gerechtigkeit? Entweder du gehörst zu denen, die einfach das große Los im Leben ziehen oder zu denen, die jeden Gott verdammten Tag für alles kämpfen müssen. Ich gehöre dann wohl zur zweiten Gruppe. Mich quälten die Fragen, die seit gestern ununterbrochen durch meinen Kopf schwirrten. Was ist, wenn ich Lisa niemals in die Augen schauen kann, um ihr zu sagen, wie viel sie mir bedeutet? Warum bin ich so ein Volldepp und habe ihr nie gesagt, wie gern ich sie habe? Was ist, wenn ich meine Chance verpasst habe und es einfach zu spät ist? ,, Darf ich auch eine?'' gedankenversunken blickte ich auf. Vincent hatte sich neben mich gesetzt. Ich reichte ihm eine meiner Zigaretten. Normalerweise raucht er nicht. Eher so gelegentlich. Das letzte Mal, dass ich ihn hab rauchen sehen, ist eine Ewigkeit her. Wir schwiegen uns an. ,, Woher weißt du, dass Felix Lisas Freund umgebracht hat?'', fragte mein Kumpel irgendwann. Schweren Herzens erzählte ich ihm die Story. Auch wenn ich Lisa versprochen hatte, es ihm nicht zu sagen. Sie wollte es selber tun, wenn sie soweit ist. Aber vielleicht wird sie nie Chance haben, es ihm selbst zu erzählen. 

Sichtweise Vincent

 Aufmerksam hörte ich Dag zu. Es fiel ihm nicht leicht mir alles zu erzählen. Allem Anschein nach wollte Lisa nicht, dass ich davon weiß. ,, Wann hat sie dir das eigentlich alles erzählt?'', fragte ich. ,, Damals im Bus. Auf dem Festival.'' Ich nickte verständnisvoll. Es muss in der Nacht gewesen sein, in der Dag und Lisa von meinem Trip nach Amerika erfahren haben. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken und fragte schließlich ,, Wie lange musst du denn noch hier bleiben?'' Dag ließ seine Finger knacken und schaute zu Boden. ,, Ich kann heute Nachmittag gehen. Ich brauche nur noch die Entlassungspapiere.'' ,, Soll ich dich nach Hause fahren?'' ,, Wäre cool.'', antwortete mein Bro abwesend. ,, Ich gehe dann nochmal kurz zu Lisa. Treffen wir uns auf Station?'' ,, Klar.'', antwortete er beiläufig, während er seine Zigarette in den Mülleimer warf. Gegen 17 Uhr saßen wir in meinem Auto und fuhren nach Hause. Langsam trotteten wir die Treppe rauf. Dag schloss seine Tür auf und ich begleitete ihn. Ich spürte, dass auch er sich unwohl fühlte die Wohnung zu betreten. Als ich den getrockneten Blutfleck auf dem Wohnzimmerboden entdeckte stockte mir der Atem. ,, Ist es hier passiert?'', fragte ich nüchtern. Mein Kumpel nickte. Was wäre gewesen, wenn ich noch eine halbe Stunde länger unten geblieben wäre? Hätte ich es verhindern können? Würde Lisa jetzt neben mir stehen, anstatt im Koma zu liegen? Hätte sie mir überhaupt noch eine Chance gegeben, nach allem, was ich ihr angetan habe? Dag kam mit einem Lappen in der Hand zu mir und fing an die Blutreste zu entfernen. Wie ein Wilder wischte er mit dem Tuch über den Boden.,, Dag, es ist gut.'' Ich stoppte seine Handbewegung. Die Erinnerungen an den gestrigen Abend setzten ihm scheinbar ganz schön zu. ,, Willste auch ein Bier?'' Ich bediente mich einfach an seinem Kühlschrank und stellte ihm die geöffnete Flasche auf den Tisch. Dag versuchte sich abzulenken. Immer wenn er das tat, fing er an über sinnlose Sachen zu sprechen. ,, Wie ist es denn gestern noch mit Franzi gelaufen?'' Ich lachte spöttisch auf. ,, Sie versucht mich zu erpressen.'', mein Blick wurde ernst.   ,, Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe, aber ich bin mir zu hundert Prozent sicher Franzi nicht mal angefasst zu haben. Du weißt, wie sehr ich Lisa liebe. Ich hätte sie niemals betrügen können.'' ,, Und warum sollte Franzi dann sowas behaupten? Ich meine du warst echt ganz schön breit auf dem Festival. Sicher, dass du nicht doch ein paar wichtige Details vergessen hast?'' Dag wirkte unbeeindruckt von meiner Aussage. ,, Ja, ganz sicher.'', antwortete ich trocken. ,, Whynee, du bist mein bester Kumpel und du weißt, dass ich dir immer meine Meinung sage, egal ob sie weh tut oder nicht. Selbst wenn du nicht mit Franzi geschlafen haben solltest, mit deiner Aktion kurz vor Amerika hast du den Bock echt abgeschossen. Lisa war am Boden zerstört. Während du dich verpisst hast, habe ich mich um sie gekümmert. Ihr ging es richtig dreckig. Jedes Mal, wenn wir beide telefoniert haben und sie bei mir war, habe ich gesehen, wie schlecht es ihr geht. Man, Lisa liebt dich über alles. Wochenlang haben Miriam und ich versucht sie wieder aufzubauen. Irgendwann konnte sie sogar wieder lachen. Bis gestern. Die Nachricht, dass du Franzi geschwängert hast, hat alles wieder hochkommen lassen. Sorry, wenn ich das so direkt sage, aber du hast dieses Mädchen einfach nicht verdient.'' Dags Worte trafen mich hart. Natürlich hat er recht. Aber es so deutlich von ihm zu hören, oh man, das ist wie ein Schlag mitten in die Fresse. ,, Ich weiß, Dicker.'', antwortete ich traurig. ,, Wenn ich ihr doch nur sagen könnte, wie leid mir alles tut.'' ,,Dafür wird es wohl zu spät sein'' Dag stand auf und lief auf den Balkon. ,, Wie meinst du das?'', fragte ich unsicher. Mein Kumpel lehnte sich an das Geländer und zündete sich eine Kippe an. ,, Die Ärzte sagen, dass wenn Lisa innerhalb der nächsten Woche nicht wieder selbstständig anfängt zu atmen, dann...dann wird sie nie wieder aufwachen.'' ,, Das sagst du mir erst jetzt?'', sagte ich erschrocken. ,, Dicker, ich will es doch selber nicht wahrhaben. Die Vorstellung Lisa nie wieder in den Arm zu nehmen oder.......'' Dag stockte. ,, ... Oder, was?'', fragte ich. ,, Ach vergiss es. Schon gut.'', wimmelte er mich ab. Es klingelte an der Tür. ,, Ich geh' schon.'' und lief durch die Wohnung. ,, Dag, kommst du mal bitte?'', rief ich. In der Zeit bat ich die beiden Beamten höflich einzutreten. ,, Guten Tag, wir sind von der Kripo. Herr Kopplin, wir hätten noch ein paar Fragen an sie bezüglich der Tat von gestern. Dag nickte und setzte sich aufs Sofa, während ich Gläser und etwas zu trinken aus der Küche holte. Fleißig notierten sie alles, was er sagte. ,, Haben Sie den Täter noch schnappen können?'', fragte Dag irgendwann. ,, Ja, er hatte sich nicht weit von hier in einem leer stehenden Gebäude versteckt. Er wird zurzeit noch ärztlich versorgt. Muss wohl ziemlich heftig zugegangen sein gestern.'' Ich konnte es nicht so richtig einordnen, ob die beiden es lustig meinten, um die miese Stimmung aufzulockern oder, ob es ernst gemeint war und vorwurfsvoll klingen sollte.

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