Zurück in die Heimat

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Sichtweise Lisa

Leise schlich ich Richtung Badezimmer, um Dag nicht aufzuwecken, der die Nacht über auf unserer Couch geschlafen hat. In der Küche bereitete ich das Frühstück vor und setzte mich mit einem Tee an den Tisch. Mein Handy lag mit dem Display nach oben vor mir und blinkte auf. Schon den ganzen Morgen über textete ich mit Vince, der mir schweren Herzens gebeichtet hat, dass seine Reise wohl doch länger als geplant dauern wird.

Vince: ,, Kommst du auch wirklich ohne mich klar?’’
Lisa: ,, Mhmm.. Mal überlegen. Denke schon. Bin in guter Gesellschaft.
Vince: ,, Ach ja?’’
Lisa: ,, Ja :D

,, Morgen.’’, Dag kam zu mir rüber und umarmte mich von hinten, um auf mein Handy zu schauen. ,, Ausgeschlafen?’’, fragte ich und schob ihm eine Tasse Kaffee entgegen. ,, Sag mal, hättest du Lust die nächsten Tage zu verreisen?’’ platzte es aus mir heraus. ,, Vincent bleibt länger in Stuttgart. Wir müssten zwar Ben mitnehmen, aber ich dachte mir, du könntest vielleicht ein wenig Ablenkung gebrauchen.’’ Dag wirkte überrascht und schien morgens nicht der entscheidungsfreudige Mensch zu sein. ,, An was hast du denn gedacht? Paris, London, Rom?’’ Dag ließ mich nicht aus den Augen während der seinen Kaffee trank. ,, Ne, ich dachte eher so an die Nordsee. Vielleicht in meine Heimat? Ich wollte eh mal wieder nach dem Rechten schauen.’’ Mein Vorschlag war mir fast schon etwas peinlich. Dag findet die Idee sicherlich total albern. ,, Klingt gut. Wann geht es los?’’ Scheinbar fand er meinen Plan doch nicht so peinlich.   ,, Ich müsste nur schnell ein paar Sachen packen und Ben abholen. Dann kann es losgehen.’’  ,, Gut, ich warte in meiner Wohnung, bis du fertig bist.’’ Dag trank den Rest seines Kaffees aus und stellte die Tasse in die Spülmaschine.

Nachdem ich Ben bei Vincents Eltern abgeholt hatte, packte ich schnell ein paar Sachen zusammen und schnallte den Kleinen in seinem Kindersitz an. Zwar war in meinem Auto weniger Platz, als in Vincents Mercedes, trotzdem reichte es für unser Zeug. Es war fast schon niedlich, als Dag mit seiner kleinen Reisetasche zu mir ins Auto stieg. ,, Lachst du mich etwa aus?’’ ,, Niemals.’’, grinste ich und startete den Motor. Während der Fahrt kümmerte mein Kumpel sich auf der Rückbank um Ben, der bespaßt werden wollte. An der nächsten Raststätte machten wir eine kurze Pause. Denn langsam wurde ich müde und hatte ein wenig frische Luft bitter nötig. ,, Eine Cola light und eine normale Cola bitte.’’ Ich bezahlte unser Trinken und lief zurück zum Wagen. Dag wiegte den Kleinen sachte hin und her. ,, Warum willst du gerade jetzt nach Hause?’’, fragte Dag und lehnte sich gegen das Auto. ,, Nur um mich abzulenken oder gibt es noch einen anderen Grund?’’ ,, Dir kann ich wohl nichts vormachen, was?’’, sagte ich. ,, In erster Linie will ich diesen Ausflug wirklich machen, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Da dachte ich mir, mein zu Hause wäre ein gutes Ziel. Wo kann man schließlich besser abschalten, als am Meer, bei guter Luft? Der zweite Grund ist, dass ich gerne zur Marks Grab möchte. Ich war sehr lange nicht dort und fühle mich deswegen schlecht. Ich habe es in den letzten Jahren einfach nicht übers Herz gebracht.’’ ,, Ist schon gut. Ich verstehe das.’’ Ich lehnte mich gegen Dags Schulter und er schien mir nicht böse zu sein. Mein schlechtes Gewissen meldete sich trotzdem zu Wort. Schließlich sollte ich jetzt für Dag da sein und ihn nicht wieder mit meinen Problemen belasten. ,, Komm, wir fahren weiter.’’  Dieses Mal setzte ich mich nach hinten und Dag fuhr den Rest der Strecke, wofür ich sehr dankbar war. Spät abends kamen wir an unserer kleinen Hütte an.  Die Schlüssel lagen wie vereinbart in einer kleinen Schachtel neben der Eingangstür. Ich kannte den Vermieter gut und er ließ uns die nächsten Tage für einen kleinen Obolus hier wohnen. ,, Klein, aber gemütlich.’’ stellte Dag fest, als wir das Haus betraten. Sofort ließ er sich aufs Bett fallen. ,, Ist aber ganz schön abgelegen. Nicht, dass wir hier noch von Wölfen überfallen werden.’’ Theatralisch fletschte er die Zähne und zog mich zu sich aufs Bett, um mich durchzukitzeln. Unsere Herberge lag leicht versteckt am Waldrand. So einsam, wie Dag es schilderte, ist es hier aber gar nicht. Die nächste Ferienwohnung steht nur ein paar hundert Meter von unserer entfernt und der Golfplatz ist auch nicht weit weg. Wir haben sogar einen Bäcker in der Nähe. Immerhin sind wir in einem Feriengebiet, das gerne von Urlaubern aus den Großstädten genutzt wird, um dem Alltagsstress zu entfliehen. Da muss schon ein bisschen was geboten werden. ,, Was meinst du, legen wir Ben ins Bett und machen eine kleine Nachtwanderung durch den Wald?’’ ,, Sehr erwachsen, Dag. Ein kleines Kind, das noch alle ein bis zwei Stunden die Flasche braucht, einfach alleine in einer Hütte liegen lassen. Ben ist ja auch schon so groß, dass er auf sich selbst aufpassen kann.’’, lachte ich. ,, Was? Er braucht auch nachts so viel zu trinken? Ich dachte, Ben schläft durch. Wie soll ich mich denn entspannen, wenn ich meinen Schlaf nicht bekomme?’’ ,, Du bist echt witzig.’’, lachte ich. Doch scheinbar dachte Dag wirklich, dass Ben nachts so gut wie durchschläft, denn er schaute mich noch immer mit offenem Mund an. ,, Keine Panik, ich kümmere mich heute Nacht um Ben. Du kannst entspannt schlafen.’’, beruhigte ich ihn. ,, Blödsinn. Ich bin Onkel Dag und werde dir natürlich helfen.’’, widersprach er sofort.

Sichtweise Dag

Lisa saß gerade draußen und telefonierte, als ich aus dem Küchenfenster schaute. Auf der Spüle hatte sie mir eine Tasse mit Kaffee und ein paar Brötchen hingestellt. Wir hatten uns die letzte Nacht über mit Ben abgewechselt. Erstaunlicherweise war es gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Irgendwie gewöhnt man sich an alles. ,, Ja, das mache ich. Ich passe auf ihn auf, versprochen. Bis später. Ich liebe dich.’’, hörte ich Lisa sagen. ,, Na, morgendliche Gespräche mit Vince?’’ Ich setzte mich zu ihr.  ,, Ich soll dich von ihm grüßen. Er will mal mit dir reden, wenn er wieder da ist.’’, sagte Lisa. ,, Du hast es ihm aber nicht erzählt, oder?’’ Mein Herz blieb für einen kurzen Moment stehen. ,, Quatsch, ich habe dir doch versprochen, dass wir es ihm gemeinsam sagen werden. Wahrscheinlich wird er im ersten Moment wütend auf dich sein und dann trinkt ihr zur Beruhigung erstmal ein Bierchen und alles ist gut. Brüder verzeihen sich und können nicht lange böse aufeinander sein. Außerdem war es ja nicht deine Schuld.’’ ,, Doch, weil ich sie mit ins Studio genommen habe.’’ Innerlich raste ich vor Wut. Hätte ich Bea nicht alleine gelassen, gäbe es das Problem nicht. ,, Ich habe mir gedacht, wir könnten gleich eine Runde durch den Wald gehen. Hier gibt es sogar einen Spielpark, den du gut für deine Parkourübungen nutzen könntest.’’ schlug Lisa vor. ,, Machst du mit?’’ Für die Frage bekam ein spöttisches Lachen zurück. ,, Ich? Parkour?’’ ,, Warum nicht, du bist doch fit. Alles andere kann man lernen. Komm schon.’’ ich versuchte sie davon zu überzeugen mit mir zu trainieren. Letztendlich standen wir beide mit dem Kinderwagen im Spielpark und fingen mit ganz einfachen Übungen am Klettergerüst an. Zuerst zeigte ich Lisa was sie machen soll und schaute ihr dann mit Ben auf dem Arm dabei zu , wie sie mit aller Kraft versuchte sich an der Metallstange nach oben zu ziehen. ,, Bei dir sieht das immer so einfach aus.’’, quengelte sie leicht. Ich legte Ben zurück in seinen Kinderwagen und gab ihr Hilfestellung. Scheinbar packte sie der Ehrgeiz, denn sie wollte sofort noch weitere Übungen machen. Irgendwann stand sie triumphierend auf einer Mauer aus Holzpfählen. ,, Ich habe es geschafft.’’, brüllte sie laut. ,, Und wie komme ich hier wieder runter?’’ Lisa lief ein Stück zur Seite und setzte sich hin. ,, Spring, ich fange dich.’’, sagte ich zu ihr und stellte mich in Position. Nach einem kurzen Zögern drückte Lisa die Füße fest gegen das Holz und sprang in meine Arme. Sicher setzte ich sie auf dem Boden ab. ,, So Herr Kopplin, ich bin mit meinem Sportprogramm durch. Jetzt bist du dran.’’ Grinsend drehte ich mich um und glänzte mit meinem Können. Nach einer Stunde war auch ich fertig und freute mich auf eine ausgiebige Dusche.

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