Fluss des Lebens

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Sichtweise Vincent

Schnell sprangen Dag, Lisa und ich in das nächste freie Taxi. ,, Zur Charité’’, forderte ich den Fahrer auf und schnallte mich an. Die Fahrt dorthin kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Was, wenn ich Schuld an ihrem Selbstmordversuch bin? Immerhin wusste ich, in welch emotionalen Zustand sie sich befindet. Trotzdem habe ich sie wieder mal provoziert. Als das Taxi vorm Krankenhaus anhielt, bezahlte ich schnell  und verschwand dann mit den anderen beiden zum Eingang. An der Information erkundigte ich mich  nach Franzi. Wir eilten zu den Fahrstühlen, beschlossen dann aber doch die Treppe zu nehmen.  ,, Gott, wie lange dauert das denn?’’  Verzweifelt lief ich den Gang auf und ab. ,, Vince, beruhige dich. Die Ärzte geben ihr Bestes.’’ , behutsam legte Lisa ihre Hand auf meine Schulter. Seit über einer Stunde saßen wir nun schon im Warteraum und hofften auf irgendwelche Neuigkeiten. Diese Ungewissheit war kaum auszuhalten. ,, Herr Stein?’’ ,, Ja?’’, aufgeregt lief ich dem Arzt entgegen. ,, Es tut mir leid. Wir konnten ihre Freundin nicht mehr retten.’’ Er senkte den Kopf. Wie in Trance ließ ich mich in den Stuhl sinken. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Benommen fragte ich irgendwann. ,, Was ist mit dem Baby?’’ ,, Die Sauerstoffzufuhr war kurzzeitig unterbrochen. Wir haben den Jungen auf die Intensivstation verlegt. Wenn Sie zu ihm möchten?’’ ,, Ich… ich glaube, ich kann das noch nicht.’’ ,, Das verstehe ich.’’, sagte der Arzt mitfühlend. ,, Die Polizei hat diesen Brief bei ihrer Freundin gefunden. Er ist an Sie adressiert. Wundern Sie sich nicht, dass der Umschlag geöffnet ist, die Polizei musste aus ermittlungstechnischen Gründen reinschauen...... Wir haben die Mutter ihrer Freundin schon informiert....Sie ist auf dem Weg hierher..... Mein herzliches Beileid.....Wenn ich noch irgendwas für Sie tun kann?’’ Ich schüttelte den Kopf. Er reichte mir den Umschlag und legte seine Hand kurz auf meiner Schulter ab.  Dann verließ er den Raum und verschwand hinter einer der Türen. Mit zittrigen Händen öffnete ich den Briefumschlag und zog das Papier heraus. Die Schrift war unleserlich und an einigen Stellen durch ihre Tränen verwischt.

‘’ Lieber Vince, wenn du das hier liest, bin ich schon tot. Es tut mir leid, dass ich mich für diesen Schritt entschieden habe. Es ist mir nicht leicht gefallen. Aber ich kann so einfach nicht weiterleben. Du hattest recht. Der Kleine ist nicht dein Sohn. Ich hatte damals auf dem Festival einen
One-Night- Stand. Seinen Namen kenne ich nicht. Als ich erfuhr, dass ich schwanger bin, ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Ich wollte nicht, dass der kleine Wurm ohne einen Vater aufwächst. Da kam mir die Idee, dir vorzuspielen, wir hätten miteinander geschlafen. Es tut mir so wahnsinnig leid, dass ich dir einfach ein Kind unterjubeln wollte. Ich dachte, du würdest es nicht herausfinden. Immerhin warst du high und konntest dich nicht an alles erinnern. Doch scheinbar wusstest du von Anfang an, dass wir nicht miteinander geschlafen haben. Ich hasse mich dafür, dass ich dir damals fremdgegangen bin. Wären wir sonst heute immer noch ein Paar? Glücklich? Verheiratet? Zwei Kinder?  Ich wollte doch nur eine richtige Familie. Das, was ich nie hatte. Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen. In Ewigkeit. Deine Franzi.’’ In meinen Augen sammelten sich Tränen, die stumm an meinen Wangen herunterliefen. Immer und immer wieder las ich mir die Zeilen durch. Auch, wenn ich jetzt wusste, dass ich nichts mit Franzi hatte und das Kind auch nicht von mir ist, war ich trotzdem traurig. Musste das alles wirklich so enden? Hätte es keine andere Lösung gegeben? Warum habe ich Franzis Hilfeschrei nicht gehört? Statt ihr zu helfen, habe ich ihr Vorwürfe gemacht. Sie beleidigt. Angeschrien. ,, Ich halte das nicht mehr aus.’’ Ich stand auf und lief zum Ausgang. ,, Vince, wo willst du hin?’’, rief Dag mir hinterher. Doch ich rannte einfach weiter. Ich wollte weg von hier. Einfach nur weg. Irgendwann verstummten Dags Worte. Plötzlich stand ich auf dem Hinterhof des Krankenhauses. Ich ging einfach weiter, ohne mich umzusehen. Völlig blind lief ich durch Berlin. Es wunderte mich nicht, dass mein Weg an der Spree endete. Hier kam ich früher oft her, wenn es mir Scheiße ging. Die Ruhe. Das treibende Wasser. Hier konnte ich der Realität für einen kurzen Moment entfliehen. Ich setzte mich auf den Steg und nahm mir einen der kleinen Steine, die am Rand lagen. Ich ließ ihn über das Wasser gleiten. Auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete ich die Lichter der Stadt. Es fühlte sich an, als wäre der Fluss die Mauer zwischen zwei Welten. Drüben der ganze Trubel. Hier die pure Stille. Ich ließ all meinen Gedanken freien Lauf. Ein leichter Windhauch streifte mein Gesicht. Mir wurde kalt. Ich zog die Beine an meine Brust und umklammerte sie mit den Armen. Dann schloss ich die Augen.

,, Dag, ich habe ihn gefunden. Ja… wir treffen uns zu Hause…’’ Ich hörte, wie jemand auf mich zugerannt kam. Neben mir ließ Lisa sich geräuschvoll auf das Holz fallen. Sie sagte nichts. Sie schaute mich einfach nur an. Wortlos hielt ich ihr den Zettel entgegen. Aus ihrer Tasche zückte sie ihr Handy und schaltete die Taschenlampe ein, um den Brief lesen zu können. Sie schwieg. ,, Hätte ich es verhindern können?’’, fragte ich irgendwann. ,, Ich weiß es nicht.’’, antwortete sie bedacht. ,, Verstehe.’’, gab ich ruhig von mir. ,, Vince, wir wissen nie, was in einem Menschen vor sich geht. Was ihm widerfahren ist. Warum er so ist, wie er ist. Wir können unseren Mitmenschen nur vor die Stirn schauen und uns auf unser Bauchgefühl verlassen. Wir können Verständnis zeigen, wenn uns jemand seine Geschichte erzählt. Aber wir werden nie das Gleiche fühlen. Weil jeder Mensch einzigartig ist und anders empfindet. Für die einen ist eine Situation schwer und belastend, während andere sie mit Leichtigkeit meistern. Wir sind alle ein Unikat. Es gibt kein‘’ richtig’’ oder ‘’ falsch’’ im Leben.’’  Ihre Worte hatten etwas Tiefgründiges. Es ging nicht darum irgendwem oder irgendwas die Schuld für das zu geben, was passiert ist. Wir handeln immer so, wie wir denken handeln zu müssen. Wer entscheidet über ‘’ richtig’’ oder ‘’falsch’’, über ‘’gut’’ oder ‘’ böse’’? Derjenige, der darüber urteilt, interpretiert wiederum seine eigenen Erfahrungen und Gefühle in die Situation. Genau deswegen wird etwas nie objektiv sein können. ,, Hör auf dein Herz. Es wird dir den richtigen Weg zeigen.’’ Lisa legte ihre Hand an meine Brust und lächelte mich an. ,, Danke.’’ flüsterte ich leise. Bevor wir beide nach Hause gingen beobachteten wir noch ein wenig das Wasser, wie es leise an uns vorbeirauschte.

Sichtweise Dag

Ungeduldig wartete ich in meiner Wohnung darauf, dass die beiden zurückkommen. Lisa hatte vor über einer Stunde angerufen. Mittlerweile war es drei Uhr nachts. Immer wieder nahm ich das Handy ins Visier. Keine neuen Nachrichten.Gerade als ich Lisa erneut anrufen wollte, hörte ich das Türschloss knacken. ,, Da seid ihr ja.’’ Müde trotteten Vince und Lisa zur Tür hinein.  ,, Bin mal kurz im Bad’’, sagte mein Kumpel. Lisa und ich liefen in die Küche. Sie stellte den Wasserkocher an. ,, Und? Wie geht es ihm?’’ Während Vince im Bad war, erzählte Lisa mir, wo sie ihn gefunden hatte und was in dem Brief stand. ,, Krass.’’, sagte ich  und fuhr mir mit den Händen durchs Gesicht. ,, Und jetzt? Was ist denn mit dem kleinen Jungen? Ich meine, wenn er überlebt, wer kümmert sich dann um ihn?’’ Vincent kam zu uns gelaufen und lehnte sich gegen den Türrahmen. ,, Ich werde mich um ihn kümmern.’’, sagte er plötzlich. ,, Das bin ich Franzi schuldig.’’ Überrascht schauten wir ihn an. ,, Bist du dir sicher?’’, fragte ich vorsichtig. ,, Ja, ich möchte, dass er eine Familie hat. Auch wenn er nicht mein leiblicher Sohn ist, werde ich ihm ein guter Vater sein.’’ ,, Wie stellst du dir das denn vor? Geht das alles so einfach?’’ Mit dem Thema kannte ich mich nicht aus. Ich wusste nur, dass Kinder, deren Eltern verstorben sind, in der Regel erstmal bei nahestehenden Angehörigen unterkommen. Den Großeltern zum Beispiel. In dem Fall käme Franzis Mutter in Betracht. ,, Mal schauen. Wahrscheinlich wird ihrer Mutter vorerst das Sorgerecht zugesprochen, aber sie ist Alkoholikerin. Ich glaube nicht, dass die Ärzte das Kind in ihre Obhut geben werden. Sie hat sich ja nicht mal richtig um ihre eigene Tochter gekümmert. Wie soll sie da Verantwortung für einen Säugling übernehmen? Zum Rest der Familie hatte Franzi nie Kontakt. Du weißt ja, wie verworren die Familienverhältnisse bei ihr waren. Wenn ich mich nicht um ihn kümmere, steckt das Jugendamt ihn bestimmt ins Heim.’’ Bei dem Gedanken, wurde mir ganz anders. Viele meiner früheren Freunde kamen aus prekären Familienverhältnissen. Sind im Heim groß geworden. Wo das Ganze endet, kannte ich zur Genüge. Die Kinder haben kaum eine Chance, was aus ihrem Leben zu machen. Viele geraten auf die schiefe Bahn. Werden drogenabhängig. Den wenigstens blüht eine rosige Zukunft. Wenn sie Glück hatten, kamen sie in Pflegefamilien unter, die sich gut um die Sprösslinge gekümmert haben. ,, Egal, was kommen wird, ich unterstütze dich.’’, sprach ich meinem Kumpel Mut zu.
,, Wir lassen dich nicht alleine.’’, sagte Lisa.

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