Prolog

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Es war weit nach Mitternacht und der Raum war düster und dunkel. Das einzige Licht spendete der Mond, welcher durch die hohen Fenster schien und sein silbernes Licht auf den kalten und steinernen Boden warf. Vor den Fenstern stand eine dunkle Silhouette, die in den Nachthimmel hinaus starrte und dabei einen leichten Schatten hinter sich warf. Die Szene hatte beinahe etwas bizarres an sich, denn obwohl die Gestalt im Vergleich zum Raum eher klein und schmächtig war, strahlte sie dennoch eine Macht aus, die im ganzen Schloss, selbst in den hintersten Ecken des Kerkers, zu spüren war. Aber trotz dieser allgegenwärtigen Präsenz gab es sonst fast kein Lebenszeichen in den Gemäuern. Es war totenstill, nur ein leises, gleichmässiges Atmen war zu hören. Im Raum war es eisig kalt, fast kälter als draussen, so kalt, dass man nicht das Gefühl hatte, dass sich hier ein lebendes Wesen aufhalten konnte. Aber es schien die Person nicht zu stören. Es wirkte vielmehr, als ob die Kälte von ihr ausging.

Nach einer Weile hörte man ein entferntes Stampfen. Mit gleichmässigen Schritten kam es näher und näher, bis es schliesslich an der offenen Tür stehen blieb. Es hielt kurz inne, trat dann aber ein. Sofort verteilte sich ein ätzender Gestank von Verwesung. Doch die andere Person nahm keine Notiz davon, sondern starrte immer noch unverwandt aus dem Fenster. Nach einer kurzen Pause begann der gerade Eingetretene zu sprechen. „Sie wurde gefunden", sagte er. Seine Stimme klang keineswegs menschlich, sie war laut und tief, eine Stimme, bei der man glaubte, dass sie jeden bezwingen konnte. Es war die Stimme eines Ungeheuers. Und doch schwebte ein Hauch von Angst, ein Hauch von Unsicherheit mit. Als ob es doch etwas gäbe, was es fürchtete. Und es war ohne Zweifel die andere Person.
"Das wurde auch Zeit", antwortete die Gestalt.
Es war eine männliche Stimme, welche kälter klang als der tiefste Winter.
Nun drehte sie sich langsam um, auf eine gemächliche und doch elegante Weise.
Es sah das Ungeheuer an. Ihr Blick war emotionslos und schien keinen Hauch von Leben in sich zu tragen. Auch wenn das Äussere auf einen Menschen hinwies, so schien doch nichts an ihr menschlich zu sein.

Das Ungeheuer war offenbar nicht auf diesen langen und kalten Blick gefasst gewesen. Trotz seiner dicken, ledernen Haut sah man sehen, wie die Kälte in ihn eindrang. Zweifellos hatte das Monster den Drang, diesen Raum so schnell wie möglich zu verlassen, bevor die Kälte sein Herz durchdringen und ihn zu Eis erstarren lassen würde. Es senkte seinen Kopf, in der Hoffnung, so die Kälte davon abzuhalten, durch sein Fleisch und seine Knochen zu dringen.

„Bring sie zu mir. Und zwar lebendig." Das Ungeheuer nickte kurz und machte eine Verbeugung, die aber etwas steif ausfiel. Danach eilte es davon, deutlich schneller, als es gekommen war, in der Hoffnung, dem Blick und seiner Kälte so entfliehen zu können.

Die Gestalt drehte sich wieder dem Fenster zu und blickte hinaus. Die Schritte verhallten. Als es wieder still war, sagte sie: „Endlich werden wir uns kennenlernen. Ich habe schon so lange darauf gewartet."

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt