Kapitel 16

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Aren

Ich befand mich an einem dunklen Ort. Zuerst sah ich gar nichts ausser der Dunkelheit. Nachdem sich meine Augen daran gewöhnt hatten, blickte ich mich im Raum um. Wobei Raum nicht der richtige Ausdruck war. Ich konnte keine Wände, keinen Anfang und kein Ende erblicken. Als ich mich erneut um meine eigene Achse drehte, erblickte ich weiter hinten eine Gestalt. Ich hätte schwören können, dass sie vorher noch nicht dort gewesen war. Zuerst wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Sollte ich wegrennen? Oder zu ihr hinlaufen? Ich entschied mich für letzteres. Wo sollte ich auch hinrennen? Mit schnell klopfendem Herzen lief ich zu ihr hin. Meine Schritte hallten auf dem Boden und waren das einzige, was zu hören war.
Kurz vor der Gestalt blieb ich stehen, sie hatte sich immer noch nicht bewegt. Ich konnte nicht erkennen, wer es war, da sie nicht in meine Richtung, sondern in die entgegengesetzte schaute. Sie schien einen Umhang oder etwas Ähnliches mit einer Kapuze zu tragen. Vorsichtig berührte ich sie an der Schulter. Da drehte sie sich mit einem Ruck um und ich blickte in ein Gesicht, das fast nicht mehr menschlich aussah.
Leere Augenhöhlen, abgemagert und voller Narben. Ich zuckte zusammen und wollte schreien, aber es kam nicht mehr als ein heiseres Krächzen heraus. Ich wollte weg, weg von dieser Gestalt. Doch ich konnte mich nicht bewegen, ich war wie erstarrt. Die Gestalt kam näher zu mir, stand nun direkt über mir. Ich schloss die Augen.

Als ich sie öffnete, wurde ich von einem grellen Licht geblendet, welches in starkem Kontrast zu dem dunklen Raum stand. Ich blickte mich um und war zuerst zu verwirrt, um etwas von dem zu verstehen, was sich vor meinem Auge abspielte.
Leute rannten herum, schrien sich Dinge zu. Aber es waren nicht nur Menschen, es waren auch andere Wesen darunter, Wesen, welche ich noch nie gesehen hatte. Überall war nichts als ein brutales Abschlachten zu sehen. Schwerter, welche in die Körper von anderen hineingerammt wurden. Grausame Schreie, welche aus der Kehle von Verwundeten kamen. Vor meinen Augen wurde anderen Leuten die Kehle aufgeschlitzt und das Gras wurde von ihrem Blut befleckt. Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas Grauenhaftes gesehen.
Ich rannte los, wollte weg von hier, aber je weiter ich rannte, desto schlimmer wurde es. Überall lagen Leichen am Boden, die Augen waren weit geöffnet und leblos. Ich blickte auf die rechte Seite, wo ein Wald war. Das war mein Ausweg.
Ich eilte darauf zu, wich den Kämpfen, so gut es ging aus und versteckte mich hinter einem der Bäume. Nun hatte ich immer noch eine gute Sicht auf das Geschehen draussen, war aber nicht mehr mittendrin.
Erklären konnte ich es mir nicht, warum ich nicht einfach wegrannte. War es Neugier? Ich liess meinen Blick umherschweifen, um herausfinden zu können, wo ich war. Mein Blick blieb an einem riesigen geöffneten Tor hängen, das nicht sehr weit entfern war. Das Tor sah unglaublich alt aus, als wäre es schon da gewesen, bevor es irgendwelche Menschen gegeben hätte. Doch dadurch sah es nicht so aus, als wäre es kurz vor dem Zusammenbrechen, sondern es wirkte nur noch mächtiger. Ich wandte mich von dem Tor ab und blickte in den Wald. Ich wusste nicht warum, aber der Gedanke an das Tor liess mir keine Ruhe. Irgendwoher kannte ich dieses Tor. Ich wusste, dass ich es schon einmal gesehen hatte, schon einmal betreten hatte. Aber woher? Irgendwo in meinen Erinnerungen war es schon einmal vorgekommen, verborgen jedoch durch die lange Zeit, die seitdem vergangen war. Woher? Woher kannte ich es? Ich spürte, dass es wichtig war, dass es etwas mit meiner Vergangenheit zu tun hatte. Vergangenheit. Als ich noch ein kleines Kind war. Meine Eltern. Meine Herkunft. All das war mit diesem Tor verbunden. Was? Was war es? Mein Gedankenfluss wurde durch einen Schrei, unmittelbar in der Nähe von mir, unterbrochen.
Ich rückte ganz nah an den Baum heran, damit mich niemand sehen konnte. Auf einmal hörte ich einen Schlag und kurz darauf ein Stöhnen. Vorsichtig drehte ich mich um, mein Blick war wieder auf das Schlachtfeld gerichtet. Direkt vor mir waren die Verursacher des Lärmes. Genau in diesem Moment sah ich, wie ein Schwert in den Rücken der einen Person gerammt wurde. Beim Rausziehen der Klinge hörte man ein ekelerregendes Schmatzen.
Die Person brach augenblicklich nach vorne zusammen. Voller Schreck betrachtete ich die mit Blut befleckte Klinge. Ich blickte das Wesen an, welches das Schwert in der Hand hielt. Sie war, soweit ich es beurteilen konnte, weiblich und definitiv kein Mensch. Obwohl sie mich nun klar und deutlich hätte sehen können, schenkte sie mir keinerlei Beachtung, es schien, als könnte sie mich nicht einmal sehen.
Sie war grösser als ein Mensch, dünner und die Augen waren schräg abstehend. Der Hautton war ein sanftes Blau. Wäre das Gesicht nicht voller Verletzungen und Blut und hätte sie nicht gerade ein Schwert in der Hand, von welchem ein kleines Rinnsal von Blut herab tropfte, könnte man auf den Gedanken kommen, dass sie hübsch war. Über ihre Schultern fiel langes, gerades Haar, welches sich im Wind bewegte. Das Gesicht war starr, zeigte keinerlei Regung. Man sah nicht das leiseste Anzeichen davon, dass sie gerade jemanden umgebracht hatte. Ich konnte sie nicht länger beobachten, da sie in eleganten und grossen Schritten weitereilte, wahrscheinlich auf der Suche nach dem nächsten Opfer, dem sie brutal das Leben entreissen konnte.

Ich blickte herab auf die Person, die nicht weit von mir entfernt auf dem Boden lag. Mein Herz blieb stehen. Die Person kam mir vertraut vor, sehr vertraut vor... Nein. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein. Wie auch?
Ich lief mit langsamen Schritten auf die leblose Gestalt zu. Kniete mich neben ihr nieder. Nein. Nein. Das war das einzige, was ich denken konnte. Langsam streckte ich meinen Arm aus, um die Person zu berühren. Doch ich hielt nochmals Inne. Wollte ich wirklich wissen, wer es war? Jede einzelne Faser in meinem Körper rebellierte dagegen. Doch das Verlangen zu wissen, wer es war, war stärker.
Mit zitternden Händen umfasste ich die Schulter des Toten und drehte ihn um. Nun konnte ich sein Gesicht sehen. Schwarze Haare, länger als jetzt. Das Gesicht voller Blut, wahrscheinlich nicht nur sein eigenes. Und leuchtend grüne Augen, welche mich leblos anstarrten.
Der Tote, welcher neben mit lag, war ich.

«Aren.»
«Aren!»
«Aren!»
Verwirrt öffnete ich die Augen. Wo war das Schlachtfeld? Wo war das Tor? Wo war...ich? Panisch blickte ich mich um. Offenbar war ich in einem Zimmer, hatte aber Schwierigkeiten, es einzuordnen. Die Dunkelheit leistete mir da keine Hilfe. Wo war ich? Ich setzte mich auf und war im Begriff aufzustehen, als mich etwas zurückhielt. Und dann kam nochmals diese Stimme.
«Aren!»
Ich drehte mich um und sah sie. Sah ihre dunklen Augen. Ihr wunderschönes Gesicht. Ich blickte hinunter. Ihre Hand umfasste meinen Arm. Als sie meinen Blick sah, wollte sie ihre Hand wegziehen, doch mit meiner anderen Hand drückte ich sie wieder zurück auf meinen Arm. Und sie liess es zu. Meine Hand zitterte und ich drückte sie noch fester auf ihre Hand. Ich brauchte diesen Halt. Mein T-Shirt klebte an meinem Körper und ich spürte die Hitze, welche von mir ausging.
«Aren», kam es nochmals von ihr. Dieses Mal war es viel sanfter, weniger panisch. Ich blickte wieder in ihre Augen. Sie waren voller Sorge.
«Es war nur ein Traum gewesen», sagte sie. Sie wartete ein wenig, bis ich mich beruhigt hatte. Als sich mein Atem wieder normalisiert hatte, zögerte sie kurz, als müsse sie innerlich mit sich kämpfen, ob sie den folgenden Satz aussprechen sollte oder nicht. Sie überwand sich dazu und sagte:
«Ich habe sie auch, diese Alpträume.»
Verwundert sah ich sie an. Aber dieses Mal anders. Es war, als würde ich sie nun in einem neuen Licht sehen.
«Was geschieht in deinen Alpträumen?», fragte ich sie.
Sie sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an.
«Tut mir leid,», fügte ich rasch hinzu, «das geht mich nichts an.»
Am Ende war meine Stimme nur noch ein Geflüster.
«Nein, ist schon gut», sagte sie schnell.
«Es geht eigentlich immer um meine Mutter. Als sie getötet worden war.»
Nun spürte ich, wie auch sie mit der Hand, welche meinen Unterarm umfasste, den Druck erhöhte.
«Und deine?», fragte sie mich. Ich spürte einen Kloss im Hals.
«Ich weiss es nicht so ganz», gestand ich ihr.
«Ich glaube, sie sind von früher. Von meinen Eltern.»
«Aber», sagte ich nach kurzem Zögern, «nicht alle.»
Sie sah mich interessiert an.
«Manche sind nur verwirrend, manche kann ich überhaupt nicht einordnen. Aber sie scheinen nicht aus der Vergangenheit zu kommen. Und trotzdem fühlen sie sich so echt an.» Es entstand eine kurze Schweigepause.
«Hast du letzte Nacht auch schlecht geträumt gehabt?», fragte ich sie.
«Bist du deshalb...» Ich beendete den Satz nicht. Sie sah mich panisch an.
«Aber du erzählst es niemandem, oder?»
«Nein, natürlich nicht», sagte ich schnell. Sie beruhigte sich.
«Ja, ich hatte von unserem abgebrannten Stall geträumt. Und... ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.»
Einen Moment war es still. Mir war es etwas unangenehm, über meine Träume zu sprechen. Aber dann zwang ich mich doch dazu.
«Ja, bei mir war es anfangs auch sehr schlimm gewesen. Es ist nie besser geworden, aber nun weiss ich, wie ich mich wieder beruhigen kann.»
Sie sah mich an und fragte:
«Und wie? Wie kannst du dich wieder beruhigen?»
«Versuche einfach, ganz tief und langsam zu atmen, dich daran zu erinnern, dass es nur ein Traum ist und dass es nicht echt ist.»
Sie sah mich an und nickte.
«Aber manchmal», fing sie an zu erzählen, «ist es nicht einmal ein Traum. Manchmal überfällt es mich mitten am Tag. Wie beim ersten Mal.»
Ich nickte langsam. Eine Zeitlang schwiegen wir, jeder war in seinen eigenen Gedanken versunken.
Durch das Fenster drangen nun die ersten Sonnenstrahlen hindurch.

«Ich sollte... dann mal gehen», sagte ich nach einer Weile.
Es ertönte ein leises Quietschen, als ich mich vom Bett erhob. Mit langsamen Schritten bewegte ich mich zur Tür. Meine Hand berührte die kalte Türklinke. Langsam drückte ich sie nach unten, hielt dann aber nochmals inne.
«Dann sehen wir uns später? Beim Training?», fragte sie mich.
Ich drehte mich um und blickte in ihre Augen. Für einen Moment konnte ich nichts sagen, war wie erstarrt. Dann blickte ich schnell auf den Boden.
«Ja, bis später», sagte ich.
Dann drehte ich mich um und ging hinaus.

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt