Aren
Wir rannten durch den Wald. Meine Mutter hielt mich an meiner Hand und zwang mich so, mit ihr Schritt zu halten. Der Lärm von hinten wurde immer lauter.
«Wir müssen schneller rennen», rief meine Mutter panisch, «Sonst holen sie uns ein.» Ich versuchte mit meinen kleinen Beinchen schneller zu laufen, aber ich stolperte immer wieder und wir verloren Zeit. Wertvolle Zeit.
«Da vorne, da sind sie!», hörte man Stimmen von hinten. Sie waren nun ganz nah, und den Schritten nach zu urteilen waren es viele. Ich war ausser Atem und konnte kaum noch rennen. Meine Mutter sah mir meine Erschöpfung an und sah sich verzweifelt um. Sie fand, wonach sie gesucht hatte. Einen Moment blieb sie stehen und blickte mir nur traurig in die Augen. Dann riss sie sich zusammen und wir eilten auf eine kleine Mulde zu, welche sich unter einem umgekippten Baumstamm gebildet hatte.
«Kriech unter den Baum», flüsterte mir meine Mutter zu. Ich gehorchte und zwängte mich darunter. Die Erde war feucht und kalt und klebte an meinen halb erfrorenen Gliedern. Ich versuchte mich, in der Mulde umzudrehen, um meine Mutter wieder anschauen zu können.
«Was ist mit dir, Mami?» fragte ich. Meine Mutter kniete zu mir hinunter, so dass wir auf gleicher Augenhöhe waren und blickte mich an.
«Du musst jetzt ganz stark und mutig sein und befolgen, was ich dir sage», sagte sie, bemüht, in einem ruhigen Tonfall zu sprechen.
«Du musst hierbleiben und ganz leise sein. Hast du verstanden?»
Mit ihren dünnen und knochigen Händen umschloss sie meine und fragte nochmals:
«Hast du verstanden?». Die Schritte kamen immer näher. Ich nickte ängstlich. «Wo gehst du jetzt hin?», fragte ich. «Ich muss nur schnell weggehen, ich komme gleich wieder.»
«Versprochen?», fragte ich leise und starrte auf unsere eng umschlungenen Hände.
«Versprochen.»
Sie löste ihre Hände von meinen und wischte sich über ihre Augen. Dann blickte sie mich wieder an.
«Bleib stark, egal was passiert, ja?» Sie lehnte sich nach vorne, sodass unsere Nasenspitzen sich berührten.
«Ich liebe dich.» Sie hob ihren Kopf und küsste mich auf die Stirn. Trotz der Kälte fühlte ich mich auf einmal ganz warm.
Erneut drückte sie meine Hände, so fest sie konnte. Als ob sie sich versuchte einzuprägen, wie sie sich anfühlten.Dann erhob sie sich und fasste sich mit beiden Händen um den Hals. Als sie sie wieder herunternahm, sah ich, dass sie die Kette in der Hand hielt, die sie zuvor um den Hals getragen hatte. Sie legte sie in meine geöffneten Hände.
«Pass gut darauf auf, ja?», sagte sie mir. Ich nickte. Nun waren die Schritte ganz nah. Einen Augenblick lang schaute meine Mutter mich noch an. Dann drehte sie sich um und rannte weg, so schnell sie konnte.
«Hier drüben!», rief jemand.
«Hier sind sie!»
Ich machte mich so klein ich konnte, schlang meine Arme um meine Knie und hielt den Atem an. Ich hörte, wie die Schritte kamen. Ich schloss die Augen.
«Wo ist er? Wo ist das Kind? Wo ist dieser kleine Bastard?»
Die Stimmen waren ganz nah und ich zitterte vor Angst.
«Ich... weiss es nicht. Er ist nicht bei... mir gewesen.»
«Du lügst!», schrie eine Stimme laut.Daraufhin ertönte ein Schlag und ein kleines aufstöhnen.
«Nei... nein, es ist die Wahrheit.»
War das meine Mutter, die da sprach? Bei dem Gedanken daran zog sich in mir alles zusammen.
«Egal, töten wir sie einfach. Den Jungen finden wir schon, wenn er nicht schon tot ist.»
Darauf folgte das dunkle Lachen einiger der Männer.
Für einen Moment war es ganz still und ich hörte meinen eigenen Atem.
Dann hörte ich einen Schrei, der mir durch Mark und Bein ging und ein leises Knacken, welches kurz darauf folgte.
Ich hörte, wie sich die Schritte entfernte, bis es still wurde. Ganz still.Ich löste meine Arme von meinen Knien und vergrub stattdessen meine kleinen Finger in der Erde.
«Komm zurück, Mami», flüsterte ich leise in die Dunkelheit hinein.
«Komm zurück.»

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Amber - Das Erwachen
FantasíaNach dem Überfall auf ihr Haus wird Aurora ins Lager der Amalintas - der Beschützer der Welt - gebracht. Es stellt sich heraus, dass Auroras Blut, genau wie das Blut der Amalintas, die Farbe von Bernstein hat, was ihnen übernatürliche Kräfte verleih...