Kapitel 34

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Aurora

Diese Nacht schlief ich tief und fest. Obwohl Aren sich neben mir die ganze Zeit im Bett herumwälzte und hin und wieder etwas Unverständliches murmelte, versank ich doch in einem tiefen Schlaf. Die letzten Tage und Wochen hatten, obwohl sie sehr schön gewesen waren, mehr an meinen Kräften gezehrt, als ich gedacht hatte.

Ich erwachte durch ein leises Geräusch auf. Als ich die Augen öffnete, sah ich gerade, wie Aren hereinkam. Augenblicklich spürte ich, wie die Kälte ins Zimmer strömte. Schnell, brutal uns unaufhaltsam. Ich zog die Decke höher.
«Oh, entschuldige, habe ich dich geweckt?», fragte er mich.
«Schon in Ordnung, ich muss sowieso aufstehen», antwortete ich.
«Wo bist du überhaupt gewesen?»
«Ich konnte nicht schlafen und deswegen habe ich einen kleinen Spaziergang gemacht.»
Ich nickte.
«Du hättest mich wecken können.»
«Nein, warum auch? Du hast so friedlich geschlafen.»
Er schloss die Tür hinter sich. Schliesslich erhob ich mich vom Bett und tapste noch etwas verschlafen auf ihn zu. Als ich bei ihm angekommen war, fuhr ich ihm durch die Haare. Ich hatte das Gefühl, für einen Moment so etwas wie ein Zögern in seinem Blick zu erkennen, aber bevor ich mir nähere Gedanken darüber machen konnte, war es auch schon verschwunden und machte einem Lächeln Platz.
«Ich liebe es, wie deine Haare am Morgen so wirr durcheinander sind», sagte ich und küsste ihn.
Unsere Lippen berührten sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, als er einen Schritt zurücktrat.
«Ist alles in Ordnung?», fragte ich ihn verwirrt.
«Ja, alles Bestens», sagte er schnell.
«Ich bin nur etwas müde. Ich gehe noch schnell duschen.»
Schnell drehte er sich um und eilte ins Badezimmer. Irritiert blickte ich ihm hinterher. Aber ich konnte mir nicht lange Gedanken darüber machen, da ich mich nun auch anziehen und bereitmachen musste.

Während des Frühstücks wurde mein Gefühl, dass etwas nicht stimmte, definitiv bestätigt. Gerade wollte Aren sich ein Stück Brot abschneiden, als er ausversehen stolperte und sich mit dem Messer in die Hand schnitt. Erschrocken schrie ich auf.
«Aren, geht es dir gut?», fragte ich ihn panisch.
«Ja, alles Bestens», sagte er. Er betrachtete seine Handfläche, aus der nun Blut begann herauszufliessen.
«Kannst du sie heilen?», fragte er mich interessiert.
«Ja, ich kann schon...», begann ich zu sprechen, «aber es ist mir etwas unangenehm vor den Anderen.»
«Ach komm, es ist doch gar niemand hier», sagte er.
Ich blickte mich um. Wir waren eher früh dran und tatsächlich waren noch nicht viele an den Tischen. Ich nickte und berührte seine Hand. Dabei durchfuhr mich ein merkwürdiges Zucken. Ich blickte ihn an. Er schien es nicht gemerkt zu haben. Da war nichts, bestimmt bildete ich es mir nur ein. Ich nahm seine Hand entgegen und konzentrierte mich. Kurz fühlte ich einen leisen Schmerz aufsteigen, der aber relativ schnell wieder verblasste. Die Wunde schloss sich sehr schnell. Aren beobachtete den Prozess genau.
«Faszinierend», murmelte er.
Ich lächelte vorsichtig.
«Kannst du auch Wunden heilen, die tiefer sind? Sehr viel tiefer?»
Nun trat ich einen Schritt zurück.
«Aren, was ist los mit dir? Fühlst du dich nicht gut?»
Irgendwie begann er mir Angst zu machen. Er sah mich mit einem forschenden Blick an, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte.
«Warum fragst du?»
«Ähm... du weisst doch, dass ich schon einmal jemanden vom Tod zurückgebracht habe. Also kann ich natürlich auch tiefere Wunden als diese Heilen.»
Erstaunt sah er mich an.
«Das habe ich nicht erwartet», murmelte er leise.
«Was meinst du damit? Das weisst du doch schon. Was ist los?»
Aber er antwortete mir nicht. Stattdessen fuhr er mit den Fingern der anderen Hand über die geheilte Stelle. Ich hatte ein ganz ungutes Gefühl. Was war los mit Aren?

Beim Frühstück verhielt er sich sehr still, was ja eigentlich normal war, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich manchmal heimlich anstarrte. Einmal drehte ich mich um und sah ihn an. Tatsächlich beobachtete er mich mit einem komischen Grinsen. Schnell drehte ich mich um. Vielleicht hat er ja wirklich einfach sehr, sehr schlecht geschlafen.
Aber ich wusste, dass dahinter noch mehr steckte.
Danach liefen wir direkt zum Training. Während wir unsere Runden liefen, sah ich ihn nicht, was ich aber eigentlich gewohnt war, da wir ein anderes Lauftempo hatten. Während dieser Zeit hatte ich beinahe wieder vergessen, wie merkwürdig sich Aren heute Morgen aufgeführt hatte und als ich ihn nach dem Rennen in der Menschenmenge gesehen hatte, bahnte sich ein Lächeln auf meine Lippen, wie jeden Tag.

Wir liefen zu unserem Platz, an dem wir immer trainierten, etwas abseits neben einem grossen, alten Baum. Dabei lief ich voraus und hatte das Gefühl, dass er mir folgte. Folgen im Sinne, dass er selber nicht wusste, wo es eigentlich hinging. Einbildung, Aurora. Einbildung. Aber trotzdem kamen automatisch die Bilder von meinem Traum wieder hoch. Wir kommen. Ich komme.
Wir stellten uns einander gegenüber und ich ignorierte die Tatsache, dass Aren keine Ahnung hatte, was genau er tun musste. Beiläufig versuchte ich ihm nochmals die Regeln zu erklären.
«Also, wenn wir beide bereit sind, greifen wir uns an, bis der eine sich nicht mehr wehren kann.»
Er nickte und da war wieder dieses unheimliche Grinsen.
«Bereit?», fragte ich ihn.
«Ja, bereit.»
Ich rannte auf ihn zu und versuchte, ihn rückwärts auf den Boden zu werfen. Auch wenn Aren stärker war als ich, hoffte ich, dass ich mit meinem Anlauf genügend Kraft hatte, um es dennoch zu schaffen. Doch er wehrte mich mit seinen Händen problemlos ab, ohne das Gleichgewicht auch nur etwas zu verlieren. Einen Moment lang war ich irritiert von der ungeheuren Kraft, die er besass. In dieser Zeit drückte er mich, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, grob auf die Knie. Ich stöhnte leise, da er mich ziemlich gewaltsam hinabdrückte.
«Habe ich schon gewonnen?», fragte er überrascht.
«Ich dachte, du wärst besser.»
Ich hatte das Gefühl, dass ich Langeweile und einen Hauch Enttäuschung aus seiner Stimme hörte. Er liess mich los und ich richtete mich wieder auf. Ich drehte mich um und wollte meinen alten Platz einnehmen, als ich auf einmal mit einer riesigen Wucht nach hinten geschleudert wurde. Mit meinen Händen versuchte ich, meinen Aufprall etwas weicher zu gestalten, aber es half mir nicht besonders. Die Trainingshose war aufgerissen worden und meine Knie aufgeschürft. Auch bei den Handflächen war die Haut zum Teil aufgerissen.
Als ich mich vom Schock erholt hatte und mich langsam aufrichtete, spürte ich, wie meine untere Hälfte des Rückens schmerzte, wahrscheinlich hatte er mich dort getroffen.
Doch meine Schmerzen wurden fast verdrängt durch meine Ungläubigkeit und meine Wut. Ich drehte mich um.
«Was ist dein Problem?», fragte ich ihn. Ich liess das Aren weg, da ich nicht glauben konnte, dass er das gerade wirklich getan hatte.
«Ich war noch nicht bereit, um weiterzukämpfen. Ich habe mich noch nicht einmal umgedreht.»
Er zuckte nur mit den Schultern. Ich lief vom Platz weg, drehte mich aber noch einmal um. Ich hatte gehofft, dass er vielleicht Anstalten machen würde, mir nachzukommen und sich zu entschuldigen. Er aber stand immer noch an genau der gleichen Stelle und betrachtete nur seine Hände.

Ich zog mir eine neue Hose an und hielt meine Hände kurz unters Wasser, damit sich das getrocknete Blut löste. Danach legte ich mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Ich musste daran denken, wie stark sein Amber gewesen war. Er konnte mich durch die Luft schleudern.
Vielleicht hatte er mir vorher einfach nie gezeigt, wie stark er war, versuchte ich mich selbst zu überzeugen. Vielleicht. Ja, vielleicht. Aber das erklärte immer noch nicht, warum er wieder zu kämpfen begonnen hatte, bevor ich bereit war.

Die Tür wurde geöffnet und ich hob meinen Kopf um zu sehen, wer es war. Es war Amelia. Ich seufzte. Meine Hoffnung war es gewesen, dass es Aren war, der sich entschuldigte und mir sein heutiges Verhalten erklärte.
«Ich weiss nicht, ob ich jemals schon mit weniger Motivation begrüsst worden war», sagte sie und setzte sich auf das Bett. Ich richtete mich auf.
«Tut mir leid», antwortete ich.
«Lass mich dich nochmals begrüssen.»
Ich räusperte mich.
«Amelia, meine beste Freundin. Ich bin so glücklich, dich zu sehen, du hast meinen Tag erhellt, die Sonne strahlt nun noch mehr wegen dir...»
«Das ist jetzt zu viel des Guten», unterbrach sie mich kopfschüttelnd, auf ihren Lippen lag jedoch ein Lächeln.
Ich lehnte den Kopf an die hintere Wand und schloss meine Augen.
«Ist alles in Ordnung?», fragte sie mich.
«Ich habe dich und Aren auf dem Trainingsplatz gesehen und es sah so aus, als würdet ihr streiten. Und was hast du hier gemacht?», fragte sie mich und deutete auf meine Hände.

«Ach, nichts», sagte ich schnell.
«Ich war nur umgefallen.»
Ich wollte ihr nicht sagen, dass es Arens schuld gewesen war. Doch trotzdem musste ich ihr von seinem Verhalten erzählen. Sie hatte uns ja sowieso schon streiten gesehen.
«Ich weiss auch nicht», begann ich zögerlich zu erzählen. «Aren ist heute so... komisch. Er macht mir beinahe Angst. So habe ich ihn noch nie erlebt.»
Sie zuckte mit den Schultern.
«Vielleicht ist das einfach eine andere Seite von ihm.»
Nun öffnete ich wieder meine Augen.
«Was meinst du damit?»
«Du hast Aren zu seinen besten Zeiten kennengelernt. Früher war er...» Sie machte eine kurze Pause, als würde sie sich gerade nochmals vor Augen führen, wie er früher gewesen war. «...anders. Sehr zurückgezogen. Er hat mit niemandem gesprochen. Obwohl er gleich lange wie wir anderen hier lebte, wussten wir beinahe nichts über ihn.»
Ich überlegte. Ja, so etwas in der Art hatte er mir auch schon mal erzählt. Ich betrachtete meine aufgeschürften Handflächen.
War das vielleicht wirklich einfach eine andere Seite von Aren? Seine dunkle Seite?

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt