Kapitel 7

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Aurora

Vor mir stand ein alter Mann, der mindestens 70 Jahre alt sein musste. Trotzdem er hatte nichts Gebrechliches an sich und er sah mächtig und stark aus. Plötzlich fühlte ich mich klein und verwundbar.
«Komm herein», sagte er mit einer tiefen und ruhigen Stimme. Ich stand in einem kleinen Gang und er deutete auf eine Tür rechts von mir, welche offen stand.
Ich betrat ein Zimmer, welches nicht sonderlich gross war, aber bis in alle Ecken vollgestopft. Bücher stapelten sich aufeinander, Bücher, welche älter sein mussten wie dieser Meister Kontu selbst. Einen Moment blieb ich stehen und starrte vereinzelte Bücher genauer an, ich konnte die Titel jedoch nicht entziffern, da die Bücher von einer dicken Staubschicht bedeckt waren.
Im vorderen Bereich des Zimmers stand ein Pult, welcher von Schriftrollen und losen Blättern bedeckt war. Sie waren alle zu hohen Türmen aufeinander gestapelt und man hatte das Gefühl, dass ein einziger Windstoss ausreichen würde, damit alles ineinander fallen würde. Ich drehte mich wieder Meister Kontu zu, der sich inzwischen in einen der beiden Sessel gesetzt hatte, welche sich im Zimmer befanden. Einen Moment starrte ich ihn von oben herab an.
«Was sind das für Kräfte, welche ich habe?», fragte ich ihn nach einem Moment des Schweigens geradeheraus. Ich versuchte, eine kräftige Stimme zu haben, war aber sehr darum bemüht, das Zittern zu unterdrücken. Ich war jetzt schon genug lange auf die Folter gespannt worden. Ich wollte endlich Antworten.
«Wie ich sehe, möchtest du gleich zum Punkt kommen», sagte er. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.
«Warum setzt du dich nicht zuerst? Dann erzähle ich dir alles, was du wissen möchtest.» Widerstrebend nahm ich auf dem anderen Stuhl Platz.

«Also», begann er. «Das, was dich angegriffen hatte, nennen wir Ragonok. Ich habe Leute dorthin geschickt, die sich die Umgebung angeschaut hatten, um Hinweise darauf zu bekommen, von wo du herkamst. Daraufhin haben sie das Wesen entdeckt. Wirklich beeindruckend. Nicht viele hätten es mit einem Ragonok aufnehmen können.»
Bewundernd schaute er mich an. Dann dachte er einen Moment lang nach. Leise und etwas beunruhigt murmelte er:
«Ich frage mich nur, wie wir solch etwas Großes nicht schon früher selbst aufgespürt haben.» Einen Moment lang sass ich wie erstarrt auf meinem Stuhl. Ich versuchte, die Wörter, die er gerade gesagt hatte, zu verarbeiten. Als ich die Bedeutung seiner Wörter zu verstehen begann, starrte ich ihn mit geweiteten Augen an.
«Warte... was? Ihr wisst, was uns angegriffen hat? Warum? Habt ihr etwa etwas damit zu tun? Seid ihr...» Er unterbrach mich.
«Nicht so schnell, nicht so schnell», sagte er.
«Beruhige dich. Ich erzähle dir alles.»

Aber ich redete einfach weiter.
«Was hat das alles mit meiner Mutter und mir zu tun? Was wollte es von uns?»
Seine Miene verdüsterte sich.
«Also habe ich richtig vermutet. Bei der Leiche im Haus handelte es sich um deine Mutter.»
Mit starrem Blick sah ich ihn an. Bei der Erwähnung an meine tote Mutter sah ich sie wieder vor mir, ihr Gesicht, von Russ und Blut bedeckt, ihre Augen geschlossen.
«Was. Hat. Das. Alles. Mit. Mir. Und. Meiner. Mutter. Zu. Tun», wiederholte ich kalt meine Frage. Mit einer traurigen Miene sah er mich an und ich blickte ihm starr in die Augen. Ich brauchte sein Mitleid nicht.
Einen Moment war es still. Dann wandte er seinen Blick von mir ab und schaute stattdessen aus dem Fenster.
«Dazu musst du die ganze Geschichte erfahren. Die Geschichte deiner Familie.»
Er atmete einmal tief ein und begann dann zu erzählen:
«Vor nicht einmal allzu langer Zeit war unser Leben ganz anders als es heute ist. Unsere Welt ist mit Merandus verknüpft, einer anderen Welt, welche man durch ein Tor betreten konnte. Wir lebten damals alle zusammen. Wir, die Menschen und die Wesen aus der anderen Welt, die den Namen Merandus trägt. Man konnte sich ungehindert in beiden Welten aufhalten, wie es einem beliebte.»

Die Wörter schwammen einfach an mir vorbei. Ich versuchte sie zu ergreifen, zu verstehen, aber sie flossen an mir vorbei wie flüssiges Wasser. Ich hatte nicht einmal die Energie ihn zu unterbrechen und starrte ihn einfach nur mit offenem Mund an.

«Das Verhältnis zwischen den beiden Welten war früher nicht schlecht gewesen, aber lange Zeit schon sehr angespannt. Wir wussten, dass wir aus unterschiedlichen Welten stammten und so gab es gegenseitige Feindseligkeiten. Wir vertrauten den Wesen der anderen Welt nicht, so wie sie auch uns nicht vertrauten. Mit den Jahrzehnten wuchs diese Feindseligkeit zu regelrechtem Hass. Und so musste nur noch etwas kommen, dass das Fass zum Überlaufen brachte. Und das Etwas war ein Kind. Die wichtigste Regel, die zwischen den Welten galt, war: Du darfst niemals mit jemandem aus der anderen Welt zusammen sein. Und auf keinen Fall ein Kind zeugen. Als das geschah und ans Licht kam, war der König aus Merandus dafür, dass man das Kind sofort umbrachte. Denn zu allem Überfluss war das Kind halb Mensch und halb Seher, der mächtigsten bekannten Spezies überhaupt. Was würde solch ein Kind für Kräfte haben? Die Seher konnten die gesamte Vergangenheit und Gegenwart sehen und die Menschen, ja alle Menschen dazumal hatten Amber in sich, eine mächtige Kraft.
Doch die Menschen nahmen daraufhin die Partei des Kindes an, wahrscheinlich nicht einmal, weil ihnen das Leben des Kindes am Herzen lag, sondern nur, damit sie der anderen Welt widersprechen konnte und ein von beiden Parteien lang ersehnter Krieg endlich ausbrechen würde. Und genau, wie sie es sich vorgestellt hatten, brach zuerst ein Streit aus, der kurz darauf in einen Krieg der beiden Welten ausartete, der sogenannten Blutschlacht. Obwohl dieser Krieg anfangs erwünscht gewesen war, nahm die Euphorie nach kurzer Zeit ab. Jede Welt wollte einfach beweisen, dass sie besser waren, niemand hatte jedoch mit solchen Opfern gerechnet. Es gab tausende von Toten auf beiden Seiten, niemand wollte eigentlich noch Krieg haben. Frieden war jedoch auch keine Lösung, ausser wenn die anderen sich ergeben würden. Und keine der beiden Seiten hatte das getan. Und am Ende, nach einem langen und grausamen Krieg, war er entschieden: Die Anderen hatten gewonnen. Sie waren in der Überzahl gewesen und dank ihrer Artenvielfalt hatten sie alle so unterschiedliche Kräfte, dass es schwierig war für uns, sie zu bekämpfen. Die Mutter und der Vater wurden getötet, doch das Kind hatte man nicht mehr gefunden. Wahrscheinlich ist es irgendwo in der Schlacht umgekommen.

Zur Strafe, dass wir die vermeintlich falsche Seite gewählt hatten, wollten die anderen Wesen uns nicht alle töten oder quälen, nein, sie hatten etwas viel grausameres vor. Denn sie wussten, dass Erinnerungen das wertvollste waren, was man besitzen konnte. Und so nahmen sie den Menschen diese. Das war die Strafe für uns Menschen. Dafür, dass wir es gewagt hatten, einen Krieg gegen sie zu führen. Unsere Erinnerungen entfernten sie mithilfe der Ituras, die die magischen Kräfte, das Amber, aus den Menschen heraus saugen konnten. Denn sobald das Amber aus einem heraus war, vergass man alles Magische. Man vergass, dass es einen Krieg gab. Dass es andere Wesen gab. Dass es eine andere Welt gab. Man dachte, man sei sein ganzes Leben lang ein einfacher Mensch ohne jegliche Kräfte gewesen. Man vergass, wer man war. Und wenn das magische aus einem heraus war, war das Blut nicht mehr bernsteinfarben, sondern dunkelrot.

Doch bevor sie allen Menschen ihre Kräfte entziehen konnten, schaffte es ein Mensch, der noch Amber in sich hatte, das Tor zu schliessen. Man weiss bis heute nicht, wie er es geschafft hatte. Er musste unglaubliche Kräfte gehabt haben. Nachdem sich das Tor geschlossen hatte, war er tot auf dem Boden zusammengebrochen. Das Schliessen des Tores hatte seine ganzen Kräfte in Anspruch genommen und ihn umgebracht. Aber danach war das Tor geschlossen. Die restlichen Menschen, denen ihre Kraft noch geblieben war, schafften es, die Ituras, welche sich noch in unserer Welt befunden hatten, zu töten. Dabei starben aber fast alle Menschen, die noch Amber besassen. Aber nicht alle. Wenige, wir, überlebten. Jedoch war der Plan der anderen Welt fast aufgegangen. Denn auch sie wollten die Tore schliessen. Nur hatten sie nicht damit gerechnet, dass wir ihnen zuvorkommen würden und dass einige von uns sich immer noch an die andere Welt erinnern konnten.
Erwachsene mit Amber in sich gibt es fast keine mehr und wenigen, welche noch übrig sind, bilden euch aus. Wir sind die Amalintas, die Beschützer dieser Welt. Unsere Aufgabe ist es nun, die Wesen aus der anderen Welt, die noch hier waren, als das Tor geschlossen worden waren, aufzusuchen. Diejenigen von ihnen, die sich vollkommen an diese Welt angepasst haben und zurückgezogen in den Wäldern leben, lassen wir am Leben. Diejenigen von ihnen, welche aber Zerstörung über unsere Welt bringen und sich nicht anpassen können, müssen wir töten.»

Bei dieser Erwähnung zuckte ich zusammen. Aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und so sprach Meister Kontu weiter. Doch was er als Nächstes sagte, brachte mich komplett aus der Fassung.
«Wir haben nur dem Mann, der das Tor schliessen konnte, zu verdanken, dass manche von uns sich noch an die andere Welt erinnern können. Er hiess Darmian. Darmian Korshua. Er sah mich eindringlich an.
«Und du bist seine Tochter, nicht wahr? Jahrelang dachten wir, dass auch du und deine Mutter in dem grausamen Krieg ums Leben gekommen wart, aber hier bist du nun.»

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt