Kapitel 4

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Aurora

Ich rüttelte sie, rief ihren Namen, schrie sie an. Doch sie bewegte sich nicht mehr. Ein ohrenbetäubender Schrei breitete sich aus, so dass er bestimmt auch noch im hintersten Winkel des Dorfes zu hören war.
Erst später realisierte ich, dass der Schrei von mir gekommen sein musste.
Ich sank neben meine Mutter auf den Boden, unfähig, irgendetwas zu tun. Meine Augen schlossen sich und ich lag reglos da. Tränen kullerten meine Wange hinab. Das einzige, was man hörte, war mein Atem. Ich würde sie nicht verlassen, würde bei ihr bleiben. Bei ihr sterben. Meine Gedanken waren so durcheinander, ich konnte keinen einzigen davon zu fassen bekommen und mein Kopf begann zu dröhnen. Mit aller Kraft versuchte ich, nicht daran zu denken, was gerade geschehen war, was gerade mit meiner Mutter geschehen war. Ich wollte nur neben ihr liegen und mir einbilden, dass sie nur am Schlafen war, dass sie jeden Moment die Augen aufmachen würde. Mein einziger Gedanke war, dass es keine Option war, meine Mutter zu verlassen. Keine.
Aber dann, ohne dass ich es stoppen konnte, rekapitulierte ich unser Gespräch, das Letzte, dass sie jemals geführt hatte. Du musst gehen. Diese Worte hallten in meinem Kopf wieder.
Es war ihre letzte Bitte gewesen, dass ich diesen Ort so schnell wie möglich verlassen musste. Ich konnte diesen Wunsch nicht einfach ignorieren. Ich musste machen, was sie mir gesagt hatte. Das machte Sinn, das war logisch. Mein ganzer Körper rebellierte gegen diesen Gedanken, er schrie «Nein!», immer und immer wieder. Und trotzdem richtete ich mich auf. Und trotzdem betrachtete ich meine Mutter mit dem Gedanken, dass es das Letzte mal sein würde, dass ich sie sah. Und trotzdem berührte ich ihre kalte Wange mit dem Gedanken, dass es das Letzte Mal sein würde, dass ich sie berührte.
Denn tief in meinem Inneren wusste ich, dass meine Mutter recht hatte. Ich musste weg von hier. Ich musste meine gesamte Kraft und Energie aufbringen, aber schlussendlich liess ich ihre Wange los. Schlussendlich stand ich auf. Und schlussendlich verliess ich das Haus.

Ich war schon beim Wald angekommen, als ich dann doch von meinen Gefühlen überwältigt worden war und stehenblieb. Nun hatten die Gefühle doch die Oberhand gewonnen und ich sah ein, dass ich es einfach nicht schaffen würde, meine Mutter zu verlassen. Auch wenn es ihr letzter Wunsch gewesen war. Als ich mich gerade umdrehen wollte, hörte ich ein Geräusch. War es das Monster? War es noch nicht tot? War es unsterblich? Oder gab es Mehrere? Angst durchfuhr meinen Körper und für einen Moment blieb ich erstarrt stehen. Dann ergriff ich die Flucht. Ohne mich umgedreht zu haben.

Ich beschleunigte mein Tempo, wurde immer schneller und schneller, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich rannte. Ich bestand nur noch aus einem leeren Körper, einer leeren Hülle, unfähig, das zu verkraften, das zu verarbeiten, was gerade geschehen war und was ich gerade getan hatte. Und so war mein einziger Gedanke, dass ich weiter rennen musste. Immer weiter.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich schon rannte. Stunden? Minuten? Aber ich rannte weiter, immer weiter. Meine Kleidung war mittlerweile vollständig durchnässt. Nun war ich schon tief in den Wald eingedrungen, es gab keinen richtigen Weg, welcher irgendwo hinführte und obwohl es erst gegen Mittag zugehen konnte, war es stockfinster im Wald. Die Sonne versuchte vergeblich, sich einen Weg durch das dicke Geäst der Bäume zu bahnen. Auch wenn das Licht nicht zum Erdboden gelangte, so sah man doch ein ganz leichtes Schimmern der Blätter. Im Rennen drehte ich meinen Kopf zuerst auf die eine und dann auf die andere Seite. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Waren noch mehr von diesen Ungeheuern unterwegs? Ich war schon sehr schnell unterwegs, aber trotzdem beschleunigte ich mein Tempo. Ich wollte so schnell wie möglich raus aus diesem Wald.

Doch auf einmal blieb ich stehen. Ich kam zur Besinnung. Realisierte einigermassen, was gerade passiert war. Was ich getan hatte. Es schien, als ob der Regen meine klare Sicht, mein logisches Denken hinweggeschwemmt hatte und mein Hirn nun wieder begann, sich mit Emotionen zu füllen. Wie konnte ich, wie wagte ich es, meine Mutter einfach in den Trümmern liegen zu lassen? Ja, ich hatte ein Geräusch gehört. Ja, vielleicht hatte es noch andere Ungeheuer gegeben, die bald gekommen wären. Aber war mir die Würde meiner Mutter so egal? Was war nur falsch mit mir?
Und dann kam mir noch ein anderer Gedanke. Ich hätte sie retten können. Wäre ich heute nicht zum Fluss gegangen, oder hätte ich schneller auf das Monster reagiert, hätte es unser Haus nicht niederbrennen können. Dann hätte ich jetzt noch ein Zuhause. Dann hätte ich jetzt noch eine Mutter. Stattdessen stand ich hier, in diesem verlassenen, dunklen Wald. Allein und verzweifelt. Zuerst verspürte ich nur Wut gegenüber dem Monster. Dann gegenüber mir selbst. Und letzten Endes dann gegenüber dieser... Dieser was? Dieser Kraft? Was war es überhaupt? Ich hatte nie gewusst, dass ich so etwas konnte. Obwohl ich die Kraft noch nicht lange besass, verabscheute ich sie zutiefst. Sie war wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass meine Mutter sich vollständig vor mir verschlossen hatte, dass wir keine normale Mutter-Tochter Beziehung haben konnte und meine besten Freunde Tiere gewesen waren. Und ihr hatte ich meinen jetzigen Zustand zu verdanken: Nämlich, dass ich lebte. Dass nur ich lebte. Sie hatte nicht dafür sorgen können, dass ich meine Tiere, mein Zuhause und meine Mutter hatte retten können. Sie hatte nur mich gerettet. Ich betrachtete diese Kraft als meine Bestrafung für irgendetwas an. Als ob ich etwas Grauenhaftes getan hatte und meine Bestrafung dafür nun war, dass ich miterleben konnte, wie alles, was ich je geliebt hatte und alles, was ich je lieben würde, zerstört worden war. Lieber wäre ich gestorben. Lieber hätte ich neben meiner Mutter in den Trümmern gelegen, vergraben unter Schutt und Asche. Vergessen. Aber wenigstens wäre ich dann nicht mehr am Leben. Nicht mehr am Leben. Dieser Satz liess mich nicht mehr los, er schien mich zu umgeben, von überall her hörte ich diesen Satz wispern.
Voller purer Verzweiflung versuchte ich diese Kraft wieder heraufzubeschwören, wie eine Verrückte musste ich dagestanden haben, meine Haare zerzaust, mein Blick wild wie der eines Wahnsinnigen. Doch anstelle der Wärme fühlte ich nur Kälte in mir. Wütend stiess ich einen Schrei aus. Nun war diese Kraft wieder verschwunden? War das ihr Ernst? Ich versuchte es erneut, versuchte mir dieses Mal, das hässliche Gesicht des Monsters vor Augen zu führen. Meine Mutter, wie sie völlig verdreckt in unserem zerstörten Haus lag. Und ich, wie ich daneben lag. Und dann war sie da. Zuerst fühlte es sich nur wie ein leises Kribbeln an und plötzlich war mein ganzer Körper davon erfüllt. Ich erzeugte einen Strahl, welcher ich in den Wald schoss. Ich wollte sie loswerden, wollte diese ganze Kraft aus mir heraus saugen, wollte, dass mein Blut rot wurde und der heutige Tag ungeschehen.

Ich spürte, wie meine Kräfte langsam schwächer wurden. Ich stöhnte auf, spürte den Schmerz, der dadurch entstand, dass ich dieseKräfte aus mir herausschleuderte, aber ich machte weiter. Denn dieser physischeSchmerz würde niemals an den inneren Schmerz herankommen, den ich gerade verspürte. Auf einmal spürte ich gar nichts mehr, ich fühlte mich wie betäubt und kurz darauf gaben meine Knie unter mir nach und ich knallte mit meinem Kopf auf den Boden. Spitze Steinchen bohrten sich in meine Haut und der Regen prasselte unaufhörlich auf mein Gesicht. Meine Tränen vermischten sich mit dem Regen und flossen mein Kinn herab. Die Kälte hatte schon lange Besitz von meinem Körpergenommen. Langsam schloss ich meine Augen, unsicher, ob ich sie jemals wieder würde öffnen können, geschweige denn würde öffnen wollen.

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt