Kapitel 15

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Wer es nicht wagt, den Dorn zu fassen, sollt' jede Sehnsucht nach der Rose welken lassen.
(Anne Brontë)

Aren

Ich blickte hinauf in die Augen eines Mannes, welcher wundervolle Augen hatte. Riesige Augen, welche keine Pupillen besassen, dafür aber schöner waren als alles, was man sich vorstellen konnte. Und sie veränderten sich stetig. Von Grün wechselten sie in ein Blau, das immer heller wurde und dann in ein Gelb überging.
Der Mann selber sah nicht sehr alt aus, vielleicht dreissig, aber sein Gesicht war von Sorgen und Furcht gezeichnet. Er sah so aus, als ob er schon alle Schrecken der Welt gesehen und erlebt hatte. Langsam ging er in die Hocke, so dass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und lächelte mich an. Seine Hände waren angenehm warm und sofort fühlte ich, wie sich die Wärme auf meinem Gesicht ausbreitete. Mit meiner kleinen Hand berührte ich ihn an der Wange, was ihm ein Lächeln entlockte.
Mit einer tiefen und ruhigen Stimme sagte er zu mir:
«Eines Tages wirst du Wunder vollbringen. Du wirst die Brücke zwischen den beiden Welten sein. Du wirst uns allen Frieden bescheren. Du wirst uns alle retten.»
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann liess er mich los. Sofort verblasste die Wärme, welche ich zuvor verspürt hatte. Er richtete sich wieder auf und drehte sich zur Seite.
Nun stand er gegenüber einer jungen Frau. Sie war kleiner als er, hatte dunkelbraunes Haar, welches ihr bis über die Schultern fiel. Sie ergriff seine Hand.
«Edward, komm mit uns. Bitte. Ich schaffe es nicht alleine.»
Am Ende wurde ihre Stimme stockend und sie war voller Verzweiflung. Doch es schien, als ob sie selbst schon wusste, wie die Antwort lauten würde.
«Sarah, du weisst, dass ich das nicht kann.»
Sie senkte schnell den Kopf, aber trotzdem war nicht zu verhindern, dass man ihre Tränen sehen konnten, welche zuerst einzeln, aber mit der Zeit strömend ihr Gesicht herabflossen. Sie zog ihre Hand, welche zuvor mit seiner umschlossen gewesen war, weg, und legte ihre Hände auf ihr Gesicht, um damit ihre weinenden Augen zu bedecken.
Der Mann ging zu ihr hin und schloss sie in eine zärtliche Umarmung. Beruhigend strich er mit der Hand ihren Rücken auf und ab. Er beugte sich langsam hinab und flüsterte ihr mit brüchiger Stimme, während er mir direkt in die Augen schaute, ins Ohr:
«Unser Kind, Sarah, rette unser Kind.»

Ich öffnete meine Augen in dem Bewusstsein, dass ich heute Nacht nicht wieder werde einschlafen können. Ich blickte nach draussen. Es war noch stockfinster, kein einziges Zeichen der Morgendämmerung war zu erkennen.
Ich schlug meine Decke beiseite und ging ins Badezimmer. Langsam drehte ich den Wasserhahn auf und sah, wie klares Wasser daraus herausströmte. Ich formte meine Hände zu einer Halbkugel, legte sie unter den Hahn und wartete, bis sich genug Wasser darin angesammelt hatte.
Danach fuhr ich mit meinen Händen über mein Gesicht und verteilte so das Wasser darauf. Das kühle Wasser liess mich leicht erschaudern und wusch den dünnen Schweissfilm weg, der immer entstand, wenn ich wieder diese Träume hatte.
Fast jede Nacht überkamen sie mich, griffen mich an. Ich konnte von Glück sprechen, wenigstens etwas Schlaf abbekommen zu haben.
Mit meinen Händen hielt ich mich am Waschbecken fest, blickte in den Spiegel und schaute mich an. Vereinzelte Wassertropfen, welche sich in meinem Gesicht angesammelt hatten, tropften auf den kalten Fussboden. Und wieder stellte ich mir diese Frage, welche ich mir nach solchen Träumen immer stellte:
Wer oder was war ich?

Ich sog mit einem tiefen Atemzug die frische Nachtluft ein. Es war ziemlich kühl draussen, aber ich hatte nur eine Hose und ein kurzärmeliges T-Shirt an, da mir die Kälte nichts ausmachte.
Ich lief zur grossen Wiese, zu dem Ort, zu dem ich fast jede Nacht ging, wenn ich einen dieser Träume gehabt hatte und nicht wieder einschlafen konnte. Als ich dort angekommen war, blieb ich stehen. Eine kühle Brise umwehte mich und ich schloss meine Augen. Das einzige, was ich hören konnte, war das Rascheln des Windes in den Bäumen und mein eigener Atem. Doch allzu lange konnte ich nicht in dieser Position verharren, ich musste mich ablenken.
Das war das Problem der Stille. Denn wenn es so ruhig war wie jetzt, schlichen sich meine schlimmsten Befürchtungen und Bedenken an, überfielen mich regelrecht und ich konnte nichts dagegen tun. Bei diesem Gedanken beschlich mich ein leises Zittern. Ablenken. Ich musste mich ablenken.
Also öffnete ich wieder meine Augen und ich blickte hoch, hinauf in den Sternenhimmel. In diesem fast pechschwarzen Himmel erblickte ich die vielen kleinen leuchtenden Punkte, die Sterne, welche daraus hervor blitzten.
Ich musste an ein altes Sprichwort denken. Sterne können ohne Dunkelheit nicht leuchten. «Alles muss im Gleichgewicht sein», murmelte ich. «Ohne die Dunkelheit gibt es kein Licht.»

Meine Gedanken wurden von einem Geräusch unterbrochen. Jemand kam.
Ich fuhr herum und erblickte eine Silhouette. Wegen der Dunkelheit und der Distanz konnte ich aber nicht erkennen, wer es war. Zuerst schien mich die Gestalt nicht zu bemerken und sie lief weiter in meine Richtung, doch auf einmal drehte sie den Kopf und blickte direkt zu mir hin. Als das geschah, änderte sie ganz plötzlich die Richtung und wandte sich wieder von mir ab. So lief die dunkle Gestalt einige Schritte, als sie auf einmal zusammenbrach. Und es sah nicht so aus, als ob sie sich wieder erheben würde.
«Was zum...?», murmelte ich nur.

Vorsichtig lief ich zu ihr hin, um die Gestalt ja nicht zu erschrecken. Als ich näher kam, sah ich, dass die Person auf dem Rücken lag und geradewegs in den Himmel starrte. Sie bewegte sich nicht und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Lange, leicht gewellte Haare umgaben ihren Kopf. Die Gestalt, wie ich annahm, weiblich, war nicht sehr gross und sah sogar von weitem sehr zierlich aus. Einer ihrer Arme lag leicht angewinkelt neben ihr, der andere weilte auf ihrem Bauch. Sie lag völlig reglos da, sah fast nicht mehr lebendig aus.
Das Gras verdeckte mir die Sicht auf ihr Gesicht, aber auch so war ich mir sicher, dass ich diese Person schon einmal gesehen hatte. Als ich näher herantrat, bestätigte sich mein Verdacht.

Ich kniete mich vor ihr nieder. Auf ihrem Gesicht lief eine schimmernde Träne hinunter. Sie hatte mich noch nicht bemerkt, sondern starrte immer noch mit glasigen Augen geradeaus in den Himmel. Nachdem die Träne nun fast ihr Ohr erreicht hatte, konnte ich nicht anders, als sie mit meiner Fingerkuppe aufzufangen. Ihre Haut fühlte sich weich an unter meinem Gesicht und ich fühlte, wie mir ganz warm wurde.
Bei dieser Berührung schreckte sie auf, als ob der kurze Kontakt unserer Haut sie aus ihrer Trance aufgeweckt hätte. Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung und blickte mir direkt in die Augen. Sie waren so dunkel, dass man die Iris fast nicht sehen konnte. Aus ihnen sprach zuerst Verwirrung und dann sah ich darin ihren Schrecken. Sie zogen mich an und es fiel mir schwer, den Blick davon abzuwenden.
Ich sah, wie ihr ganzer Körper anfing zu Zittern und ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht nur wegen der Kälte war. Für einen Moment blieb es still, sogar der Wind hatte aufgehört zu wehen. Es schien so, als würde gerade die ganze Welt den Atem anhalten um zu sehen, was als Nächstes geschehen würde.

Das Schweigen wurde von ihr gebrochen.
«Bitte», sagte sie mit brüchiger Stimme, welche nicht mehr als ein Flüstern war.
«Bitte geh.»
Am Ende kam kein Ton mehr heraus und ich las die Worte nur noch von ihren Lippen ab. Sie wandte den Blick ab und starrte neben mir ins Gras.
«Aurora», sagte ich langsam.
Ich berührte ihre Hand. Sie war eiskalt. Ich fluchte.
«Aurora, steh auf. Du kannst nicht so lange in dieser gottverdammten Kälte sein, du hast nicht einmal einen Pullover oder eine Jacke an. Steh auf. Ich begleite dich in dein Zimmer.» Doch sie regte sich nicht. Ihre Augen waren immer noch offen, aber sie schien mich nicht zu hören.

Also legte ich einen Arm unter ihre Beine und die andere unter ihren Rücken und stand auf. Nicht nur ihre Hände, sondern ihre gesamte Haut war eiskalt und leblos. Sie fühlte sich so leicht und zerbrechlich an, war leichter als beim letzten Mal, als ich sie getragen hatte. Ich blickte auf sie herab, auf ihre Augen, die sich nun geschlossen hatten. Ihre Wimpern berührten dabei fast ihre hohen Wangenknochen. Ihr Gesicht war unnatürlich blass, bis auf die vor Kälte geröteten Wangen und ihren weichen, vollen Lippen, welche teilweise von ihrem Haar verdeckt wurden.
Ich musste mir eingestehen, dass sie das schönste Mädchen war, das ich je gesehen hatte.

Bei ihrer Hütte angekommen, drückte ich die Türklinke hinunter. Erleichtert stellte ich fest, dass sie vergessen hatte, die Tür abzuschliessen.
Ich betrat den Raum. Dabei knarzte der Boden unter meinen Füssen. Mein Blick schweifte umher und ich entdeckte einen kleinen Gegenstand. Ich trat näher heran und erkannte, dass es das Buch war, welches ich ihr gegeben hatte. Ansonsten sah ich nichts, nichts, was diese Hütte von allen anderen Hütten unterschied.
Ich wurde neugierig. Wer genau war diese Aurora Korshua?
Ich legte sie auf das Bett und sah, dass ihr T-Shirt etwas hochgerutscht war und den Blick auf ihre nackte Haut freigab.
Mein Herz begann schneller zu klopfen. Vorsichtig berührte ich den Saum des Shirts und zog es nach unten. Dabei berührte ich ihre Haut und zuckte dabei leicht zusammen.
Ich deckte sie zu und setzte mich auf das Bett. Danach beugte ich mich über sie und blickte ihr makelloses Gesicht an.
Vorsichtig strich ich ihr mit meinen Fingern eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ich sah, wie ihre Lider flackerten und sie danach ihre Augen öffnete.
Schnell erhob ich mich. Was machte ich hier überhaupt? Warum hatte ich sie auch berühren müssen! Ich wollte schleunigst verschwinden und ich begab mich schon auf den Weg zur Tür, als mich ihre zarte Stimme zurückhielt. Sie sagte nur zwei Wörter, bevor sie wieder in einen tiefen Schlaf gerissen wurde.
«Bitte bleibe.»

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt