Kapitel 21

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Aurora

Als ich aufwachte, lag ich in meinem Bett. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und für einen Moment hatte ich völlig vergessen, was gestern passiert war. Für diesen einen Moment war ich die alte Aurora, welche niemanden umgebracht hatte, welche niemanden vom Tod zurückgeholt hatte. Dann war der Moment vorbei und ich kam in der eiskalten Realität an.
Draussen schien die Sonne, es musste schon Mittag sein. Im Zimmer war es ruhig, ich hörte nur mein regelmässiges Atmen. Ich hielt Inne. Es war nicht nur mein Atmen. Es war ganz leise, aber trotzdem war ich mir sicher, dass noch jemand anderes im Raum war. Ich drehte meinen Kopf und zwei leuchtend grüne Augen funkelten mich an.
Sofort richtete mich auf und war schon auf dem Weg, aus dem Bett zu steigen, um weg zu kommen. Weg von ihm.
«Warte, Aurora!», rief er.
Seine Stimme zitterte leicht. Ich hielt inne.
«Bitte. Hör mich an.»
«Das alles wäre gestern nicht passiert, wenn du mir nicht diese Dinge gesagt hättest», flüsterte ich leise. Ich presste meine Lippen aufeinander.
Ich würde jetzt nicht weinen. Nicht vor ihm.
«Ich weiss, Aurora. Es tut mir so unglaublich leid. Bitte glaube mir.
  «Ich... ich kann nicht. Das, was du gesagt hast...»
«Ich weiss, ich hätte dir diese Dinge nie sagen dürfen. Nichts davon war so gemeint. Es ist nur...»
«Aren, bitte geh. Geh einfach.»
Meine Stimme war erstickt, aber doch klar und deutlich zu verstehen. Er sah mich gequält an, aber er verstand. Ich stand auf, lief hinter ihm zur Tür. Er öffnete sie, und sagte beim Hinausgehen:
«Es tut mir so leid. So unendlich leid.»

Ich schloss die Tür hinter ihm und lehnte mich dagegen.
Dann kamen die Tränen. Sie strömten wie ein endloser Fluss über mein Gesicht. Ich legte mein Gesicht in meine Hände und stützte die Ellbogen auf meinen Knien ab. So viele verschiedene Gedanken vermischten sich. Aren, wie ich einen unschuldigen Jungen getötet hatte, wie mich alle entsetzt angestarrt hatten, meine Mutter.
Ich spürte den Schmerz, diesen endlosen Schmerz, und er wollte nicht weniger werden.

Ich öffnete meine Augen. Meine verklebten Augen. Verklebt von den ganzen salzigen Tränen, welche ich vergossen hatte. Ich blickte meine Umgebung an. Nun lag ich vollständig auf dem Boden. Wahrscheinlich war ich eingeschlafen und hatte meinen Oberkörper automatisch auf den Grund befördert.
Es war schon Abend, der Mond stieg langsam auf. Da es eine wolkenlose Nacht war, spendete der silbern schimmernde Mond fast so viel Licht, wie am Tag die Sonne.
Die Kraft, mich aufzurichten, fehlte mir. Und so blieb ich auf dem Boden liegen. Kraftlos und voller Trauer. Meine Gedanken waren ein einziges Durcheinander und ich konnte an gar nichts Konkretes denken.
Auf einmal hörte ich ein leises Klopfen an der Tür. Es war mir komplett egal und ich blieb einfach reglos liegen. Ich erwartete schon, dass auf der anderen Seite eine Stimme erklingen würde, doch stattdessen hörte ich nur, wie etwas unter der Tür hindurchgeschoben wurde. Es waren zwei gefaltete Blätter. Für einige Minuten blieb ich reglos liegen und starrte es nur an. Dann streckte ich langsam meinen Arm aus und nahm die Blätter entgegen. Ich faltete sie, auf dem Rücken liegend, auseinander und las:

Aurora,
Ich weiss, dass du nicht mit mir sprechen möchtest. Doch du musst wissen, was ich dir zu erzählen habe.
Wie du weisst, kann ich mich fast nicht mehr an meine Eltern erinnern, nur in meinen Träumen sehe ich sie manchmal. Ich habe nie eine Familie gehabt und weiss nicht, wie es sich anfühlt, sich jemandem anvertrauen zu können. Ich dachte schon, dass das für immer so bleiben würde, aber dann kamst du. Mit dir war alles anders, ich fühlte mich plötzlich, nach so langer Zeit wieder glücklich und befreit. Doch immer noch fällt es mir schwer, mich jemanden zu nähern. Deswegen habe ich mich auch immer wieder von dir zurückgezogen. Du musst verstehen, dass ich mich nicht nur alleine und unsicher gefühlt habe, weil ich nie eine Familie hatte.Ich fühlte mich auch immer anders. Ich weiss, jeder fühlt sich manchmal anders und einsam, aber bei mir war es nicht das Gleiche. Immer wieder blickte ich in den Spiegel und fragte mich: Wer war ich? Diese Frage konnte ich mir nie beantworten. Denn die Dinge, welche ich in meinen Träumen sehe, Aurora, das sind keine normalen Träume. Ich fühle, dass sie wahr waren, dass sie so passiert sind - oder noch passieren werden. Dieses Gefühl ist schwer zu beschreiben,aber ich weiss es einfach. Und glaube mir, es ist schrecklich. Jede Nacht wache ich auf, geweckt durch dunkle, brutale, verstörende Dinge, welche manchmal in meinem Traum geschehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir die dunklenWesen auch in diese Welt folgen, ich habe manchmal das Gefühl, ich werde wahnsinnig. Das hat mich in eine finstere Zeit geführt, in der ich mich von den anderen nur abgeschottet habe, mit niemandem mehr gesprochen habe.
Aber du hast mir geholfen. Auch wenn es dir nicht bewusst war, du hast mich teilweise aus diesemLoch gezogen. Ich weiss nicht, was du an dir hast, aber deine Aura, dein Wesen,es ist... es ist wundervoll.
Jedenfalls habe ich an dem Tag, nachdem ich dich draussen gefunden habe, die Wahrheit über mich herausgefunden. Gleich, nachdem ich gegangen bin, hat mich Meister Kontu zu sich kommen lassen. Er sagte, es sei nun an der Zeit, dass ich es wissen sollte. Er erzählte mir nochmals die Geschichte, die auch du kennst. Warum derBlutkrieg überhaupt begonnen hat. Wegen dem Kind, welches aus zwei Welten stammte. Und dass ich dieses Kind war. Wie er mich dazumal im Wald gefunden hatte. Auch dort habe er schon eine leise Ahnung gehabt, und als er dann meineAugen sah, war er sich sicher, dass ich es sein musste. Mein Geburtsname ist also nicht Aren, sondern Noah. Mein Vater war also ein Seher, welcher dieVergangenheit und die Gegenwart sehen konnte, wann immer er es wollte. Und meine Mutter war menschlich. Von ihr hatte ich das Amber geerbt, und von ihm die Fähigkeit, zu sehen. Im Gegensatz zu ihm sehe ich nur Visionen, und nur in meinen Träumen. Aber dafür kann ich, so glaube ich zumindest, manchmal auch in die Zukunft sehen.
Meister Kontu, der schon vorher von meinen Träumen gewusst hat, sagt aber, dass es nur Dinge sind,welche vielleicht in der Zukunft geschehen, dass es also nicht unbedingt dieZukunft ist, welche wir erleben werden. Das hoffe ich zumindest. Glaube mir, Aurora, ich habe schreckliche Dinge gesehen...
Nachdem ich dies erfahren hatte, war ich wieder in dieses Loch gesunken, nur noch viel schlimmer. Ich konnte es nicht ertragen, der Gedanke, dass meine Geburt der Grund für diese Schlacht gewesen war. Und auch, dass ich nicht vollständig ein Mensch war. Die Bestätigung, dass ich tatsächlich nicht zu euch gehörte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie einsam ich mich nach dieser Nachricht gefühlt habe. Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich niemals irgendwo dazugehören würde.Und deswegen habe ich mich dir gegenüber so verhalten.
Und ehrlich gesagt beneidete ich dich auch unglaublich. Du weisst, wo du hingehörst, wo dein Platz in der Welt ist. Das ist auch ein Grund, weswegen ich so schrecklich zu dir gewesen war und warum ich all diese Dinge gesagt habe. Glaube mir, nichts davon war so gemeint, gar nichts. Es hat mich innerlich zerbrochen, dich so gequält und verletzt zu sehen und zu wissen, dass es meine Schuld war. Und dann ist derUnfall von gestern Abend geschehen. Ich hoffe, du weisst, dass das unter keinen Umständen deine Schuld war. Es war ganz alleine meine. Ich weiss nicht, ob du mir glaubst oder mir jemals wieder vertrauen kannst. Die Dinge, welche ich getan habe, sind unverzeihlich. Aber ich fand es wichtig, dass du nun auch noch meine Seite der Geschichte gehört hast.
Aren

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt