Kapitel 31

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Aurora

Den Anhänger zog ich nie ab. Nicht einmal beim Schlafen, obwohl mir Aren sehr oft und eindringlich zu erklären versuchte, wie einfach und schnell die Kette mich erwürgen könnte. So konnte ich Aren nämlich immer bei mir haben.

Wenn ich an diesen Winter zurückdenke, könnten meine Gefühle nicht widersprüchlicher sein. Es war der schönste und schlimmste Winter meines Lebens.

Der Schnee nahm jeden Tag zu, auf dem Boden hatte sich schon eine dicke Schicht gebildet. Im Training fror ich immer, die vielen Schichten, die ich anhatte, schienen gar nichts zu nützen. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Kälte, die schadenfreudig und problemlos bis zu meinen Knochen vordrang. Doch es hatte auch seine guten Seiten. Die Eiszapfen, die von den Dächern herabhingen, sahen wunderschön aus und fasziniert betrachtete ich, wie sich das Licht auf wunderbare Weise darin spiegelte. Schneeballschlachten blieben natürlich auch nicht aus, wobei Aren - was ich natürlich niemals zugeben würde - viel besser war als ich. Wegen der Kälte hatte ich auch einen Vorwand, noch näher bei Aren zu schlafen. Ich wusste nicht, wie er das machte, aber er schien immer warm zu haben. Noch nie hatte ich ihn mit mehr als einem dünnen Pullover bekleidet gesehen. Wenn sich unsere Hände berührten, zuckte er immer erschrocken zusammen und fragte mich, wie um alles in der Welt meine Hand so kalt sein konnte. Zur Antwort murmelte ich immer etwas von schlechter Durchblutung.

Gerade führte ich eine Tasse voller heissen Tees an meine Lippen. Ich trank einen kleinen Schluck und sofort begann mein Rachen zu brennen. Ich stellte die Tasse ab und öffnete schnell meinen Mund.
«Heiss, heiss!», rief ich, während ich mit den Händen in der Luft herum wedelte, als ob ich so meinen Mund abkühlen konnte.
Er schüttelte den Kopf.
«Ich habe dir gesagt, dass er zu heiss ist», sagte er tadelnd.
Mit finsterem Blick sah ich ihn an.
«Besserwisser.»
Er hob seine Hände in die Luft.
«Was kann ich dafür, dass du immer falsch liegst?»
Daraufhin blickte ich ihn noch finsterer an.

Also wartete ich noch ein paar Minuten und betrachtete dabei, wie der Wasserdampf langsam aufstieg und sich in Arens Zimmer ausbreitete. Dann ergriff ich die Tasse wieder. Von der Seite her sah ich, wie mich Aren beobachtete und nur darauf zu warten schien, dass ich mich noch einmal verbrannte. Ich nahm einen Schluck. Obwohl es immer noch viel zu heiss war, nahm ich gleich nochmals einen Schluck, um Aren zu demonstrieren, dass er nicht mehr zu heiss war. Dann setzte ich die Tasse ab. Ich spürte, wie sich die Flüssigkeit langsam einen Weg durch meinen Körper bahnte. Sofort wurde mir wärmer. Ich seufzte.

«Weisst du was?», begann ich zu sprechen.
«Ich finde es ungerecht, dass der Winter immer so lange dauert. Der Sommer geht nicht halb so lange.»
Er lachte.
«Nicht jeder hat immer so kalt wie du.»
Ich ignorierte seine Antwort und fuhr fort.
«Aber wirklich. Warum kann es nicht immer Sommer sein? Im Sommer blühen die Pflanzen, im Sommer erwacht das Leben.»
«Weisst du», sagte er und legte seinen Arm um meine Schultern. Ich bereitete mich schon für seinen nächsten idiotischen Satz vor.
«Für mich ist es immer Sommer.»
Ich schaute ihn irritiert an.
«Ach ja?», fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
«Ja, du bist für mich der Sommer. Mit deinen hellen Locken und deinem strahlenden Lächeln bist du wie die Sonne in meinem Leben.»
Es war süss, was er sagte, aber irgendwie auch komisch. Ich entfernte mich etwas von ihm.
«Warte, wer bist du und was genau hast du mit dem Arroganten und Nervigen Aren gemacht?», fragte ich ihn.
Er schnippte mit den Fingern.
«Er ist wieder da.»

Ein - zumindest für mich - erfreuliches Ereignis geschah einige Tage später: Amelia und Elliot trennten sich. Sie hatte mir nie erzählte, was passiert war, aber es konnte nicht so schlimm gewesen sein, denn die ersten darauffolgenden Tage schwamm sie zwar in einem kleinen See von Tränen, aber danach erreichte sie wieder das Ufer. Natürlich tat sie mir leid, aber es freute mich auch. So konnten wir wieder mehr gemeinsam unternehmen und überhaupt, so konnte ich wieder einmal mit ihr reden.

Ich sass in der kleinen Fensternische und blickte heraus. Das Fenster war durch die Kälte von draussen angelaufen. Ich berührte die Scheibe. Ein kleiner Kälteschauer durchzuckte mich. Mit meinem Ärmel fuhr ich in kreisähnlichen Bewegungen über das Fenster, um eine klare Sicht von draussen zu bekommen. Es wurde nun wieder früher dunkel und am Himmel leuchteten die Sterne, mir schien, heller als jemals zuvor. Und wieder einmal wurde ich mir bewusst, wie klein und unbedeutend wir doch in dieser riesigen, endlosen Galaxie waren.
Ich lehnte meinen Kopf an die Wand hinter mir und schloss die Augen.

Aren

Leise öffnete ich die Tür, um sie nicht zu wecken. Ich hatte noch meine Jagdschicht im Wald gehabt. Auch wenn ein Teil der Tiere im Wald einen Winterschlaf hielten und es generell im Winter anstrengender war zu jagen, konnten wir doch einige Rehe und Hirsche erlegen. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal zur Jagd gegangen war, hatte ich es gehasst. Zu sehen, wie das Leben der tödlich verletzten Tiere aus ihren Augen wich, wie sie ihre letzten, verzweifelten Atemzüge machten. Wahrscheinlich wäre es auch jetzt noch unerträglich für mich das mit anzusehen, aber zwischenzeitlich hatte ich gelernt, wo man genau hinschiessen musste, um die Tiere auf einen Schlag zu töten.

Ich schüttelte leicht den Kopf und schloss die Tür hinter mir zu. Dann zog ich mir leise die Schuhe aus und meinen Pullover. Dabei musste ich an Aurora denken.
«Wie um alles in der Welt kannst du nur einen dünnen Pullover anhaben? Es ist Winter. Es ist kalt.»
Bei dem Gedanken an sie hob ich meinen Kopf und richtete ihn auf das Bett. Aber es lag unbenutzt da, die Decken waren schön zusammengefaltet. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und da entdeckte ich sie. In ihrem dünnen, weissen Nachthemd lag sie zusammengekauert in der Fensternische. Ich musste lächeln. Sie sah aus wie ein Engel. Vorsichtig hob ich sie hoch und trug sie zum Bett. Dabei bewegte sie sich leicht und gab einen unverständlichen Laut von sich. Sie öffnete langsam ihre Augen.
«Warum hast du beim Fenster geschlafen?», fragte ich sie flüsternd.
«Ich bin wohl beim Betrachten der Sterne eingeschlafen», murmelte sie. Dann schloss sie ihre Augen wieder. Ich deckte sie bis zur Nasenspitze zu und setzte mich neben sie. Eine Weile beobachtete ich einfach, wie sie friedlich und ruhig schlief, ihr Gesicht entspannt, ohne Sorgen. Dann küsste ich sie auf die Stirn, zog mich um und legte mich neben sie. Kurz darauf war ich im Land der Träume.

Der dunkle Ort, an dem ich mich befand, kam mir merkwürdig vertraut vor. Es gab keinen Raum, nur Finsternis. Ich fragte mich, ob ich schon einmal hier gewesen war, aber ich konnte mich nur verschwommen daran erinnern. Auf einmal bemerkte ich, dass ich nicht alleine war. Jemand oder etwas lag, ganz in der Nähe, auf dem Boden. Ich eilte hin und ging in die Knie. Die wirren Haare verdeckten ein Gesicht. Ich strich es zur Seite und zum Vorschein kam... Aurora.
Mein Herz blieb stehen. Mit den Händen stützte ich mich auf dem Boden ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
«Nein, nein, das kann nicht sein», murmelte ich bestürzt.
Ich rüttelte sie an den Schultern.
«Aurora?», fragte ich mehrmals.
Zuerst leise, aber mit der Zeit schrie ich ihren Namen regelrecht.
Doch ihre Augen blieben geschlossen und ihr Körper reglos. Ich starrte sie lange Zeit an und dann, auf einmal, öffnete sie schlagartig ihre Augen.
«Aurora.»
Erleichterung durchströmte mich. Sie versuchte etwas zu sagen, brachte aber nicht viel mehr als ein Röcheln und Würgen zustande.
«Aurora, was ist los?», fragte ich panisch.
Dann begann sie, unkontrolliert zu zucken. Schockiert beobachtete ich die Szene. Ich berührte ihr Gesicht.
«Was passiert mit dir? Was hast du?»
Aber sie gab keine Antwort. Plötzlich fühlte ich, wie meine Finger von etwas Warmen umschlossen wurden. Ich hob sie hoch. Es war Blut.
«Aurora!», schrie ich.
Das Blut schien von ihr auszugehen, aber ich konnte keine Wunde feststellen. Was war hier los? Sie fing an zu husten und aus ihrem Mund kam Blut.
«Hallo? Ist hier jemand? Helft ihr doch!», schrie ich.
Und dann, auf einen Schlag, war sie still. Ich musste nicht einmal ihren Puls messen. Ich wusste es schon. Sie war tot.

Als ich aufwachte, fühlte ich, wie jemand mich durchrüttelte.
«Aren! Wach auf!»
Ich öffnete meine Augen und erblickte Aurora. Sofort war ich hellwach.
«Aurora! Geht es dir gut? Bist du nicht verletzt?»
Irritiert sah sie mich an.
«Nein, mir geht es gut.»
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:
«Sag mal Aren, was genau hast du geträumt?»
«Nichts Spezielles. Nur das übliche.»
Sie sah mich an. Sie wusste, dass ich log. In ihrem Blick sah ich etwas leicht verletztes, nicht lange, nur für einen Augenblick. Ich fühlte einen Stich im Herzen. Ich wollte sie nicht anlügen. Aber ich konnte ihr nicht erzählen, was passiert war. Ich konnte ihr nicht erzählen, dass ich sie habe sterben sehen.

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt